Montagsblock /134

Langsam schimmert etwas Post-Covid-Morgenröte am Schlandhorizont. Obwohl ich gerade aus Lissabon komme, wo ein erster wiederkehrender Lockdown viele Portugiesen erschreckt hat. Achtung, Achtung, Sie dürfen die Metropolregion übers Wochenende nicht verlassen! In nur einer Woche hat das Deltavirus für eine Inzidenz von 170 gesorgt. Begleitet von heftigen Regengüssen, die vom Atlantik kommend gefräßig über die Küste herfielen. Und den aggressiven Schland-Fußballern, die das portugiesische Selbstwertgefühl mächtig erschüttert haben. Doch keine Sorge, Ihr kleinlauten Portugiesen. Das Deltavirus hat sich längst in alle Richtungen des Erdkreises aufgemacht. Und unsere Fußballer werden bestimmt noch ihre Grenzerschütterung zu spüren bekommen. Keine Frage: Der Deltaschmarrn ist ante portas, urbi et orbi!

Stellt sich bereits die Frage, wie wir es dann (vermutlich im Herbst) hierzulande halten werden mit Selbstverantwortung und Autonomie, wenn der Inder im Virusgewand kommt? Werden die Bürger einen erneuten Lockdown verkraften wollen und können? Wie lässt sich eine erneute Schließung überhaupt begründen, wenn der gefühlte Post-Covid-Sommer gerade erst vorbei sein wird? Erstes Sodbrennen bei der Vorstellung, dass von Anne Will bis Markus Lanz dann der sattsam bekannt zähe Gesprächsbrei wieder angerührt wird. Noch dazu mit dem lustigen Onkel Laschet oder der siebengescheiten Gouvernante Baerbock?

Deshalb hier ein kleines vorbereitendes Konzentrat zu Verantwortung. Zu empfehlen bei ähnlichen Gedanken und aufkommender Unruhe. Für den Soziologen Ralf Dahrendorf bedeutet Verantwortung vor allem, dem anderen Freiraum für eigene Entscheidungen einzuräumen. Damit plädiert er für mehr Mut, Kreativität und Fantasie. „Verantwortung bedeutet, dass dem Einzelnen ein breiter Spielraum des Ermessens gewährt und dieser durch Vertrauen, nicht durch ständige Sanktionen garantiert wird.“ Hoppla, das schmeckt nach liberaler Ursuppe.

Daniel Kahnemann wiederum, der in seinem neuen Buch „Noise“ rät, in jeder Entscheidungsfindung zunächst aktiv gegen seine eigene Gedanken- und Erörterungssicherheit vorzugehen, würde nicht viel anders argumentieren und vermutlich empfehlen, von dieser Verantwortungsvorstellung noch einen kräftigen Schluck zu nehmen, bevor wieder Trinkverbot herrscht. Und wenn es nur symbolisch im Schlaf sein möge, wo der Mensch ja bekanntermaßen am autonomsten ist.

Doch wer will noch schlafen angesichts niedrigster Inzidenzwerte? Bewegung, beweglich. Begreifen, griffig. Vorwärts, ohne Verluste. Neue Kontingenzen künden von Wahrheit oder situationsbezogener Richtigkeit irgendwelcher politischer Entscheidungen. Und die Wirtschaft sucht schnell noch praktische, innovative Umsetzungen in den Lücken, Rändern und Ritzen, bevor Wahrheit und Gesetz wieder dominieren. Sinnstiftung allüberall, jeder nach seiner Facon. Sinn, so sagt Armin Nassehi, „ist das ständige Neuarrangieren der Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit, das fortlaufende Aktualisieren von Möglichkeiten.“ Gemeint sind in der Wirtschaft jene Innovationen und Umbrüche, die das Aktuelle verblassen lassen und das Neue begrüßen. Wirtschaft als das permanente Aktualisieren von Neuem, das wie ein Propeller funktioniert. Man beschleunigt, um voranzukommen. Wirtschaft als das Sinnhafte, was möglich und umsetzbar ist. Politik hingegen als das Sinnhafte, was richtige Entscheidungen nach sich zieht. Beide handeln autonom, aber nicht immer verantwortungsbewusst. Wie auch, wenn Kontingenz und Komplexität einen solchen Noise erzeugen, dass der durchschnittlich überforderte Zeitgenosse von Bias zu Bias und von Widerspruch zu Widerspruch stolpert.

Da hilft nur eines, und Sie merken, wie dieser Text wieder zur Verantwortung gezogen wird. Kontingenz und Komplexität könnten auch eine Art von Rettungsanker für moderne Menschen und Systeme sein. Denn erstens könnte immer alles anders sein. Und zweitens immer woanders hinführen. Als Chance bedeutet dies: Kontingenz bietet Individuum, Organisation und Welt die Option, anders zu werden. Komplexität ist wiederum die Option, weiter vorzudringen, worum es in der Entscheidungsfindung eigentlich geht. Anders und begründungsagil bietet allen eine Zukunft. See the options, get the feeling! Dahinter verbirgt sich ein Spiel vieler Möglichkeiten, Ideen und Sinnstiftungen. Menschen und Systeme sind unendlich komplex, in der es keine Blaupausen und fixe Abläufe gibt. Gut so! Darin Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, sowohl eigene Entscheidungen begründen und gleichzeitig gegen sie vorgehen zu wollen. Man muss sich nur die Mühe machen.

Dahrendorf meets Kahnemann! Von Lockdown keine Spur. Portugal schlägt Frankreich bei der EM. Und das Deltavirus umarmen wir einfach so lange, bis es tot ist.

Peter Felixberger, Montagsblock/134