Montagsblock /131

Was tut man eigentlich, wenn man einen Montagsblock schreiben muss, einen Abgabetermin hat, sich die entsprechende Stunde Zeit genommen hat, sich an den Rechner setzt, ihn schreiben will und überhaupt nicht weiß, was man schreiben soll? Nicht dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser denken, mir falle nichts ein. Das ist nicht das Problem. Die Themen liegen auf der Straße. Mir würde schon etwas einfallen, und wie ich die Entwicklung dieses kleinen Textes so sehe, wird es sich kaum vermeiden lassen, auf solche Einfälle hinzuweisen. Aber es ist mir noch nie so gegangen, zu denken, dass es doch vergebliche Mühe ist, sich zu einem textlichen Engagement aufzuraffen und eine halbwegs nachvollziehbare Argumentation aufzubauen – klar, mit allen Restriktionen, die es immer gibt, mit den üblichen Ungenauigkeiten, um die herumzuschreiben man mit der Zeit geübt ist und auch nicht ohne jene Unschärfe, die sich am Ende einstellt. Aber selten machte sich bei mir eine solche Frustration breit, dass es womöglich unnütz ist. Sicher vermieden hätte ich es, über die verunglückten Videos von Schauspielerinnen und Schauspielern zu schreiben, die natürlich, um Gottes Willen, alles Recht der Welt haben, so etwas zu machen. Ist schließlich ihr Beruf. Es wurde ja inzwischen sogar bekannt, dass Manche nur Dinge aufgesagt haben, die Andere ihnen aufgeschrieben haben. Ist eben ihr Beruf. Und selbst wenn man die Videos für misslungen und mindestens unsensibel hält und sich darüber wundert, wie wenig Textverständnis, wie wenig Sinn für Textgattungen und wie wenig Sinn für ihre Instrumentalisierbarkeit diese Leute haben, so ist die große Desillusionierung die, dass Darsteller und gespielte Stoffe in vielen gelungenen Filmen mit einigen dieser Schauspieler offensichtlich nicht auf gleicher intellektueller Höhe angesiedelt sein müssen. „Kunst“ hat alle Freiheit der Welt – auch die zu misslingen übrigens.

Aber darüber wollte ich ja nichts sagen. Frustrierender als das ist das große Besteck, das nun ausgepackt wird. Diese Schauspieler werden sogar „Nazis“ genannt, durchgeknallte Rundfunkräte denken laut über Dinge nach, die nicht ihre Aufgabe sind, und Manche freuen sich über gelöschte Videos. Und andererseits werden Kritiker dieser Video-Aktion pauschal „Freiheitsfeinde“ genannt, es wird ihnen vorgeworfen, sich an autoritären Lösungen zu ergötzen, und die schöne Formel der „Cancel Culture“ macht die Runde. Und es besteht tatsächlich Unverständnis für Kritik an einer unverschämten Szene, in der ein offensichtlich eher einfach gestrickter Darsteller in Tüten atmet, während auf Intensivstationen beatmet wird.

Die einzige Hermeneutik, die mit irgendeiner Ernsthaftigkeit betrieben wird, ist die Hermeneutik des Verdachts. Wie soll man in solch einer Atmosphäre argumentieren? Wir wissen aus der Konfliktforschung, dass eingeführte antipodische Situationen den unschätzbaren Vorteil haben, dass sie wirklich stabil sind. Wo es keine Graustufen mehr gibt, braucht es auch keine Urteilskraft. Und wo man statt der einen keine anderen Unterscheidungen mehr verwenden kann, hat man zwar eindeutige Verhältnisse, kann aber nichts sehen. Das hat übrigens auch den demokratisierenden Effekt, dass wirklich jeder und jede mitreden kann, weil die Schwelle zum Argument sehr niedrig hängt.

Was wirklich nicht mehr zu ertragen ist, das ist die Behauptung, man könne nicht mehr kontrovers diskutieren – und man muss nicht einmal nur an pandemieorientierte Fragen denken, das gilt inzwischen für alles. Professorinnen und Professoren, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als kontrovers zu diskutieren, unterschreiben kontroverse Resolutionen darüber, dass man nicht mehr kontrovers diskutieren könne, überhebliche Chefredakteure höhnen über den „Elfenbeinturm“ (drucken solche Resolutionen aus dem „Elfenbeinturm“ aber gerne in ihren Zeitungen ab), wissenschaftliche Kontroversen werden als High-Noon-Szene aufgebauscht, wer differenziert diskutiert, wird gleich von mehreren Seiten beschimpft. Hauptsache, man muss nicht genau hinsehen und kann sich einreihen – und alle Grautöne bleiben auf der Strecke.

„Grau“ sei alle Theorie, lässt Goethe Mephisto sagen, aber „grün des Lebens goldner Baum“. Ich fürchte, heute wäre eher das Grau zu schätzen, die Schattierung, die Verkomplizierung statt der Vereinfachung. Was bedeutet es eigentlich für Kommunikation, wenn sie dieses Dazwischen verliert? Was bedeutet es eigentlich für die „Kunst“, wenn jede Subtilität verschwindet, wie es die Serienschauspieler, gerührt vom eigenen Engagement, vorgetragen haben? Was bedeutet es dafür, dass Lösungen für Probleme sich nie als billige Alternative darstellen? Will man einen Montagsblock schreiben, wenn es doch nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Wir und Die gibt? Eigentlich nicht. Dabei ginge es um etwas. Würde man mehr Grau sehen, könnte man den Freiheitsfreunden erklären, dass sie sich auf Schrumpfversionen derselbigen ausruhen, denkfaul und kaum bereit für Nuancen. Und würde man mehr Grau sehen, dann wären schon früher die unglaublichen Schäden der Pandemie, die sehr ungleiche Lastenverteilung in der Pandemie, auch die psychischen Schäden aufgefallen. Würde man mehr Grau sehen, wäre womöglich deutlich geworden, dass halbherzige Eingriffe ohne klares Ziel niemandem nützen und die Schäden nur verlängern. Würde man mehr Grau sehen, würde womöglich sogar sichtbar, dass man das eine nicht gegen das andere ausspielen kann. Würde man mehr Grau sehen, käme man womöglich darauf, dass wir in einer klassischen Dilemma-Situation sind. Aber das ist sicher nur der „Elfenbeinturm“, der das so sieht.

Wem Dilemma zu elfenbeintürmlich ist, sage einfach „Zwickmühle“ – eine Alternative, bei der beide Züge unerwünschte Wirkungen haben. Ein Ausweg wäre nur das Grau, die Schattierung – das Eine tun und das Andere nicht lassen. Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma? Gibt es Versuche, die Polarisierung aufzuheben? Ja, es gibt sie, zuhauf. Sie werden auch diskutiert. An verschiedenen Orten. Man kann sich daran auch ernsthaft beteiligen (zugegeben, es ist oft mühsam, aber es geht, ich hätte dazu viel zu erzählen). Aber sie gehen unter. Politisch, intellektuell, vor allem medial – und in den sozialen Netzwerken ohnehin. Übrigens: Unter logischen Gesichtspunkten ist die Auflösung von Dilemmata oft dann denkbar, wenn man den Faktor Zeit einbezieht – so stellt sich unter dann veränderten Bedingungen das Dilemmatische bisweilen anders dar. Das hätte womöglich bei Überlegungen zur Pandemiebekämpfung geholfen, wenn man ein Konzept und klare Ziele und dann einen längeren Atem gehabt hätte – für wirklich hilfreiche Maßnahmen statt halbherziger Kompromisse, die niemandem nützen. Aber das jetzt zu erklären, würde doch nur wieder dem Elfenbeinturm zugerechnet. Also: heute lieber nicht.

Worauf ich hoffe – es ist immerhin Ende April –, ist ein fröhliches Frühlingsgrau in all seinen Schattierungen. Dann macht es auch wieder Spaß, einen Montagsblock zu schreiben. Diesmal lasse ich es lieber.

26. April 2021

Armin Nassehi, Montagsblock /131