Montagsblock /125

Ich habe mir fest vorgenommen, meinen ersten Montagsblock des Jahres auf keinen Fall über COVID-19, über die Corona-Krise und den ganzen Mist zu schreiben. Aber vergangenen Freitag saß ich mit Peter Felixberger zusammen (in gebührendem Zoom-Abstand natürlich), weil wir die Kursbücher des Jahres planen wollten. Und da fragt der einfach: Wie funktioniert eigentlich ein Argument? Welcher virologischen Schlussfolgerung soll man eigentlich folgen, wenn diese sich unterscheiden? Er bezog sich auf den Streit der Virologen und Virologinnen, die derzeit durch die öffentlichen Kommunikationskanäle gereicht werden und sich ja auf dieselben Daten, Erkenntnisse, Studien, Veröffentlichungen stützen.

Nun ist ja oft genug diskutiert worden, was es heißt, auf die Wissenschaft zu hören und dass man von Wissenschaft keineswegs Eindeutigkeit und letzte Wahrheiten erwarten kann, gerade weil sie sich an den bestehenden Wahrheiten abarbeitet.

Nun haben wir ja gelernt, was ein Argument ausmacht: Stimmen die Prämissen, sind die Schlussfolgerungen wahrheitsfähig, tragen die Gründe, werden die entsprechenden Geltungsansprüche angemessen unterschieden? Aber das meinte Peter nicht. Er fragte: Warum glauben wir dieser Version von Virologie und nicht jener?

Er spielte auf die Politisierung des virologischen Diskurses an. Um es ein wenig zu vereinfachen, kann man derzeit drei Positionen ausmachen: Virologie 1 versucht zu beruhigen und sagt, wir müssten ohnehin mit dem Virus leben, am besten fangen wir schon bald damit an; Virologie 2 warnt vor Risiken und verweist darauf, wie riskant eine zu frühe Form der Lockerung ist, auch nach den Erfahrungen des letzten Jahres, als wir eher Glück hatten, weil das Niveau der Infektionen nach dem ersten Lockdown noch viel niedriger war; Virologie 3 kombiniert Optimismus mit Pessimismus und plädiert dafür, mit Lockerungen erst zu beginnen, wenn das Virus durch Kontaktbeschränkungen auf Null steht, um danach die Dinge eindeutig kontrollieren zu können. Ich nenne hier keine Namen, die interessieren hier auch nicht – zumal es alles honorige Leute sind, die sich um die Sache bemühen, deren Kompetenz schon durch ihre Karrieren dokumentiert ist und die es mit ihren Sätzen in eine große Öffentlichkeit gebracht haben – auch wenn bei dem einen oder anderen auffällig ist, wie ungenau, ja geradezu falsch seine Prognosen am Ende waren.

Hier interessiert eher: nach welchen Kriterien finden wir die jeweiligen Argumente richtig, stichhaltig, plausibel, im weitesten Sinne wahr?

Die Frage ist ziemlich einfach zu beantworten: Die Wahrheitsfähigkeit der Konsequenzen richtet sich eher nach den Erwartungen der Rezipienten als nach den guten Gründen der virologischen Intelligenz. Denn es fällt doch sehr auf, welches der Argumente von wem aufgegriffen wird. Jedenfalls lässt sich an der Krise sehr deutlich beobachten, dass die Deutschen keineswegs ein Volk von Virologen und Virologinnen geworden sind. Weil die virologischen Argumente gar nicht die entscheidende Rolle spielen – die können wir fast alle nicht beurteilen. Aber die Medien und auch der gesellschaftliche Flurfunk beteiligen sich an einer Politisierung der Virologie in dem Sinne, dass stets die Variante am plausibelsten erscheint, die einem selbst am ehesten in die Karten spielt.

Nun wäre man naiv, würde man etwas anderes erwarten – und wir wissen spätestens seit der Kommunikationstheorie von Shannon und Weaver aus den 1940er Jahren, dass der Empfänger einer Information oder eines Signals kein passiver Rezipient ist, sondern die Information oder das Signal nur nach eigenen Kriterien dechiffrieren kann. Die Politisierung der Virologie ist also eher einer Virologisierung des Politischen. Unterschiedliche Akteure greifen auf diejenige Virologie zurück, die sie für sich brauchen – und so kann man wahrscheinlich mit denselben Studien und Ergebnissen, Daten und Publikationen unterschiedliche Konsequenzen begründen.

Das ist die Situation, in der wir uns gerade befinden: Die Virologisierung des Politischen hilft wahrscheinlich wenig dabei, eine virologisch angemessene Form politischer Entscheidungen zu ermöglichen – zumal dies auch auf die virologischen Akteure zurückfällt: Manche von ihnen werden gar nicht an ihren Argumenten gemessen, sondern daran, wer sie sind und wie sie letztlich in der jetzigen Situation gelabelt werden, was selbst wiederum auf deren Kommunikationsform zurückwirkt.

Das meinte Peter, als er so unschuldig fragte, was denn eigentlich ein Argument sei. Wissen wir es jetzt? Nun, zumindest scheinen Viele nur das wissen zu wollen, was sie immer schon wissen wollten. Das Vetrackte ist: Die Politisierung von Wissenschaft hat oft diese Folgen, was am Ende aus der Frage der wahrheitsfähigen Prämisse und Schlussfolgerung eine Frage der politischen Durchsetzbarkeit und ihrer Plausibilisierung macht. Das gilt sicher nicht immer und in jedem Fall, in dem es um den Transfer von Wissen in praktische Entscheidungen geht – aber hier ist es ohne Zweifel so. Ich selbst habe übrigens eine virologische Präferenz. Aber wahrscheinlich ist auch diese das Ergebnis meiner eigenen Erwartungen. Aus dieser Form der Selbstbezüglichkeit kommen wir derzeit wohl nur schwer heraus. Obwohl ich finde, dass meine Präferenz ziemlich gut ist. Welche das ist, tut hier übrigens nichts zur Sache (obwohl ich es in einem Interview schonmal verraten habe).

25. Januar 2021

Montagsblock /125, Armin Nassehi