Dieser letzte Montagsblock des Jahres kann gar nicht anders, als sich mit dem Thema des Jahres zu befassen, der COVID-Krise nämlich – und er macht auf eine wichtige europaweite Initiative aus der Wissenschaft aufmerksam.
Erzählt man die Geschichte des Umgangs mit der Krise in der Bundesrepublik, muss man spätestens nach der ersten Öffnung nach Ostern, allerspätestens aber nach der Wiederkehr der höheren Infektionszahlen von halbherzigen Lösungen sprechen. Erst wunderte man sich über etwas, das schon lange prognostiziert wurde, dann tat man Ende Oktober so, als könne man mit einigen wenigen Maßnahmen „Weihnachten retten“, dann merkte man, dass die erhofften Wirkungen eher ausblieben, dann hatte man doch Sorge, und dann musste es wieder sehr schnell gehen. Es gibt viele Gründe dafür, warum so etwas wie eine mittelfristige Strategie nicht gelingt – und gerade weil dies nicht gelingt und die jetzigen Maßnahmen keine wirklich klaren Ziele benennen können, ist die aktuelle Situation sehr unbefriedigend.
Deshalb bedarf es einer klaren Strategie, die einerseits klare Maßnahmen beinhaltet, andererseits aber auch ein klares Ziel formuliert. Verfassungsrechtler haben stets darauf hingewiesen, dass Grundrechtseinschränkungen im Verhältnis zu erwartbaren Zielen stehen müssen; Ökonomen haben betont, dass kurze und radikale Einschränkungen besser ausgehalten werden können als unabsehbar lange Störungen; die Intensivmedizin warnt und warnt, weil die Kapazitäten knapp werden könnten; in der Altenpflege brennt es unter dem Dach; und Virologinnen und Virologen sind sich in der großen Mehrheit einig darüber, dass die Zahlen runter müssen, selbst wenn einige publikumswirksam vor dem angeblichen Fetisch der kleineren Infektionszahl gewarnt haben.
Immer noch gerieren sich Viele in der veröffentlichten Meinung mit einer Hermeneutik des Verdachts gegen strengere Maßnahmen und nennen sich dabei liberal, weil sie empirisch nicht zugeben wollen, dass es mit der Selbstregulierung in dieser Ausnahmesituation schwerfällt – die Evidenzen dazu liegen auf der Hand. Lieber bedient man das Vorurteil, es handle sich um Untertanengeist, Wirtschaftsfeindlichkeit oder gar Willkür, wenn man versucht, sich einen Reim auf die Bedingungen des Scheiterns zu machen.
Es ist richtig, dass es besser wäre, bestimmte Gruppen besser schützen zu können und manche Bereiche gezielt zu unterstützen – das wäre das richtige Modell, das auf einem niedrigen Infektionsniveau auch möglich wäre, darüber sind wir aber weit hinaus.
In diese Zeit fällt eine Initiative, die vor allem von der Göttinger Physikerin Viola Priesemann ausgeht, die sich mit mathematischen Modellen der Ausbruchs- und Verteilungsdynamik des COVID-Virus beschäftigt. Sie hat mit einigen Kolleginnen und Kollegen eine Strategie entwickelt, die sowohl eine Verkürzung als auch eine Kontrolle und risikoadaptierte Handlungsweise erlaubt.
Ich hatte die Ehre, das Papier „Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections” , das in The Lancet erschienen ist, als einer von zahlreichen Erstunterzeichnern aus ganz Europa zu unterstützen.*
Die Idee in Kürze:
- Anders als oft behauptet muss die Hauptstrategie sein, die Fallzahlen radikal zu senken. Die Konsequenz: weniger Kranke, weniger Tote, Entlastung des Gesundheitswesens. Das Ziel: <10 Fälle pro 1 Mio. Menschen pro Tag.
- Wirtschaftliche Folgen werden minimiert, wenn die Fallzahlen niedrig sind.
- Kontaktnachverfolgung und Quarantäne können bei niedrigen Fallzahlen gezielt Infektionsketten unterbrechen.
- Eine natürlich erworbene Immunität (Herdenimmunität) ist unrealistisch.
- Klare Planbarkeit für die Politik.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer europaweiten, drastischen Unterbrechung der Kontakte, um genau das zu erreichen, was von vielen Skeptikern strenger Maßnahmen gefordert wird: risikoadaptierte Formen der gezielten Reaktion. Ein weiterer Vorteil: Die Ziele sind klar und deutlich, sie wären rechtlich klar formulierbar und besser zu begründen und man könnte Konditionalprogramme bilden, die die Strategie transparent machen.
Der Montagsblock ist keine politische Plattform und er macht üblicherweise keine Werbung für Strategien. Aber man darf im Montagsblock auf wissenschaftliche Evidenz verweisen: Diese Initiative ist eine von europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern formulierte Strategie, die den Vorteil hat, die eigenen Implementationsbedingungen gleich mitzuformulieren – eingedenk der Erwartung, dass eine kurze, aber wirklich radikale Form der Einschränkung eine lange halbherzige Form der wenig wirksamen Einschränkungen ersetzen könnte, bis die Wirkung von Impfungen wirklich greift.
Der Dank für die Initiative gilt Viola Priesemann.
Montagsblock /123
Armin Nassehi, 21. Dezember 2020
* Die Liste der Erstunterzeichner findet sich hier. Eine eigene Website der Initiative findet sich unter https://containcovid-pan.eu.