Montagsblock /121

Dieser annus horribilis, dieses schreckliche Jahr hat uns bis dato vor allem eines gelehrt: dass man sich auf kaum eine Sicherheit, auf kaum eine Eindeutigkeit, auf wenige Prognosen und vor allem auf keinen Endgültigkeitsgestus verlassen kann. Wenn wir etwas gelernt haben, dann ist es eine fast universale Erfahrung von Vorbehaltlichkeit und Vorläufigkeit – und des Kampfes dagegen. Der Populismus der sogenannten „Querdenker“ opponiert ebenso gegen diese Erfahrung der Vorbehaltlichkeit wie ein naiver Szientismus, der sich gar nicht vorstellen kann, dass Wissenschaft selbst stets unter dem Vorbehalt des Vorläufigen und des Fallibilismus steht. Dieses schreckliche Jahr ist eine Zumutung für alle – vor allem aber für jene Schwachen im Geiste, die mit der Komplexität und den Kontingenzen der Gegenwart nicht zurechtkommen.

In der kursbuch.edition ist gerade das Buch „Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie“ erschienen. Das Buch war schon länger geplant, aber es kommt gerade zur rechten Zeit während dieses Pandemie-Jahres. Der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Professor für Germanistische Mediävistik an der LMU München, Peter Strohschneider, beschreibt die Selbstzumutungen einer Gesellschaft, die an sich selbst vor allem in der Form des Verlustes von Unmittelbarkeit leidet – weswegen gegen die „Mittelbarkeiten“ einer pluralistischen Form von Demokratie, einer voraussetzungsreichen wissenschaftlichen Forschung und einer komplexen Lebensform opponiert wird. Strohschneider zeigt, dass Strategien der Irritationsvermeidung nicht nur bei Populisten oder den dummen Kerlen vorkommen, sondern sogar in der Wissenschaft selbst, letztlich überall. Strohschneider schreibt nicht nur über Zumutungen – sein ganzes Buch selbst ist eine Zumutung, nämlich die Zumutung, die radikale Perspektivität aller Standpunkte in einer Gesellschaft unseres Differenzierungsniveaus nicht nur anzuerkennen, sondern auch auf sich selbst anzuwenden. Strohschneider lässt niemanden aus – und kann gerade deshalb sehen, warum diese Gesellschaft gerade mit der gegenwärtigen Pandemie so schwer umgehen kann: Einerseits hält diese grandios leistungsfähige Instanzen wie die wissenschaftliche Forschung, eine pluralismussensible Demokratie, leistungsfähige Verfahren, einen kreativen Markt, Formen der Rechtsbindung und Wissen auf unterschiedlichsten Ebenen vor. Andererseits vermag sie es gerade deswegen nicht, diese unterschiedlichen Instanzen so zu integrieren, dass sich so etwas wie eine Problemunmittelbarkeit ergeben könnte. Die Bearbeitung der Pandemie wird gebrochen an den Perspektiven ihrer zum Teil widerstreitenden Problemlöser, die die Pandemie selbst sogar auf der Problemebene pluralisieren. Man könnte sagen: Da ist ein großes Problem, aber mein Problem ist nicht dein Problem, und doch müssen wir es gemeinsam lösen.

Es geht hier aber nicht nur um die Pandemie – sie ist nur die Parabel auf Strohschneiders These von der Verlusterfahrung jener Unmittelbarkeit, die selbst eben nicht die Lösung, sondern das Problem wäre. Das Überzeugendste an diesem Essay ist, dass er sich selbst einschließt. Strohschneider weiß genau, dass die Beschreibung selbst Teil und Form jenes Problems ist, das sie löst. Eine Analyse der modernen Zumutungen kann selbst nur in der Form einer Zumutung daherkommen, sonst würde sie ihren Gegenstand schon performativ unterbieten. Deshalb: Wer die Unmittelbarkeit von konkreten, eindeutigen und widerspruchsfreien Lösungen sucht, lasse die Finger von diesem Text. Allen anderen sei er mit unmittelbarer Verve empfohlen.

Armin Nassehi, Montagsblock/ 121

23. November 2021

 

Unbedingter Lesetipp: Peter Strohschneider: Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie. 288 Seiten. kursbuch.edition, Hamburg 2020.