Montagsblock /120

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Freitagabend. Premiere. Residenztheater München. „Dantons Tod“ von Georg Büchner. 50 Zuschauer. Wir sind zu viert. Vier von Fünfzig! Balkon, 1. Reihe. Zwischen uns jeweils drei Plätze frei. Viel Luft. Bühne frei. Regisseur Sebastian Baumgarten lässt die Revolutionshunde von der Leine. Scheppernde Schwarz-Weiß-Videos mit Steinewerfern, Polizeiwannen und Demogegröle prallen auf Helden, die in der jakobinischen Schreckensherrschaft ihre Viruslast unter dem Volk verteilen und Infektionsherde in Konvent, Wohlfahrtsausschuss und Bordell bilden. Weit über der Bühne thront ein virtueller Leningott als Lehrmeister und Chefausbilder ideologischer Zurichtung. Unten irrt ein zweifelnder Danton wie ein Pinball Wizard zwischen menschlichen Gefühlsabgründen und politischem Tugendterror. Gehetzt von den Systemasketen Robespierre und St. Just, die das Lasterhafte zum politischen Feind der Demokratie erklären. „Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik ist die Tugend – die Tugend, weil ohne sie der Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist.“ Worte des Herrn Robespierre. Was sich der hehren Idee in den Weg stellt, wird vernichtet.

 

Ich wünsche mir eine sofortige Direktübertragung in alle TV-Kanäle. Danton, wie er auf den Wellen schöner Frauenleiber surft. St. Just, wie er den Staub, aus dem er zusammengesetzt ist, verachtet und den Geist der Revolution zur Ursuppe menschlicher Vervollkommnung erklärt. Achterbahnfahrt. Mich zieht’s zurück ins Tagesaktuelle. Vier von Fünfzig zwei Tage vor Lockdown. Scheiß drauf, in den langen Geschichtswellen ist Corona nur eine Augenblicksplattitüde? Markus Söder ein bald vergessener Buchhalter zwangsreaktionärer Machtrhetorik? Oder scheiß ich mir morgen wegen steigender Infektionszahlen ins Hemd?

 

Schnell zurück zu Bühnenlärm und Videostakkato. Danton, fordern ihn die Gefährten auf, misch dich ein, säe den Zweifel menschlicher Unzulänglichkeit in die siegesgewisse Pose strenger und unbeugsamer Gerechtigkeit. Doch darauf wartet St. Just. Die Tugend, so hat er es längst vor Büchners schriftlicher Dramenhandlung geschrieben, muss durch Gesetze wiederhergestellt werden, wenn Eigenliebe und Leidenschaften sie korrumpiert haben. Das ist der jakobinische Esprit der Revolution. Nieder mit schwachen Temperamenten in Regierung und Volk.

 

Und gleichzeitig ist es der Sprit für den Außenborder des Denunzianten, der gefühlskalt seine Spur durch die Geschichte zieht. Es gruselt mich. Abschweifung. Jawoll, ich werde die Bedingungen des Lockdowns erfüllen. Ich will nicht der Beginn einer kausalen Kette bis hin zu Särgen werden, die von Lastwagen weggefahren werden. Im Hörsaal der Moral ist kein Platz für Zweifler und Ängstliche. Es geht ums Grundsätzliche. Mir fällt Hannah Arendt ein: Rebellion ist nur Befreiung, Revolution ist die Gründung der Freiheit.

 

Danton und Robespierre sitzen beim letzten Abendmahl. Die Gefährten lauschen. Danton appelliert an das eine Holz, aus dem sie beide geschnitten sind. Robespierre kennt nur mehr das Gerechte und Ungerechte. Innen, Außen. Revolutionäre versorgen das politische Klientel vollständig. Keiner muss sich mehr um seine Ängste und Zweifel sorgen. Das Paradox moderner Gesellschaften. Freiheit bedeutet einerseits das Privileg, sich um sich selbst zu sorgen, braucht aber andererseits die Versorgung eines paternalistischen Staates. Hummelflug. Danton resümiert: „Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht.“ Sein Kopf fällt auf den Boden des Korbes.

 

Vier von Fünfzig verlassen das Theater. Der Schlussapplaus für das Ensemble verkriecht sich zwischen den Stuhlreihen. Wir schämen uns ein wenig. Die Leidenschaft eines großartigen Ensembles sucht angemessene Resonanz. Zweieinhalb Stunden, wir halten kurz inne. „Bitte, bilden Sie keine Menschentraube.“ Vor dem Theater kleine Rebellionen mit Weinflaschen auf den Treppenstufen. Wollen wir uns dazusetzen und eine Zigarette lang gegen den Systempanzer protestieren? Wir nehmen noch eine Brise Freiheit mit in die Nacht und fahren nach Hause. Sperrstunde.

 

Peter Felixberger, Montagsblock/ 120

02. November 2020