Montagsblock /119

Die Corona-Krise hat viel zu viele große Auswirkungen auf die Welt, auf unser Leben, auf alles. Sie nervt. Was würde man darum geben, sie abstellen zu können und endlich wieder dem ganz normalen Wahnsinn zu frönen, den wir sonst so haben. Zu Beginn der Krise haben viele gemeint, dass sich die ganz großen Dinge womöglich ändern würden, dass wir nie wieder in das alte Hamsterrad zurückkommen werden. Kathartische Wirkungen wurden erwartet – dass wir endlich so richtig zu uns kommen und alles auf den Prüfstand muss usw. Was die Leute eben so reden, wenn sie viel Zeit haben. Viel Zeit hatten sie dann nicht mehr, weil die äußere Inaktivität viel zu viel Aktivität erzeugt hat, Konflikte, Enttäuschungen, Belastungen. Wir wissen noch nicht, wie das Ganze ausgeht, was bleiben wird, wie schnell wir es vergessen, was von den wohlfeilen Erwartungen bleibt, wir wollten gar nicht zurück in das alte Normal, es müsse jetzt ein neues geben. Also ganz ehrlich – ich will das alte Normal zurück. Möglichst all die Hektik, auf die ich immer geschimpft habe. Auch wenn der eine oder die andere sagt: Der hat gut reden, aber bei uns! Stimmt bestimmt.

 

Aber es gibt auch sehr kleine Krisenerfahrungen, und eine davon bleibt bei mir sicher. Eigentlich ist es keine Krisenerfahrung, sondern eine Erfahrung während der Krise, die mit der Umstellung auf Videokonferenzsoftware zu tun hat. Ich habe ein Digitalsemester hinter mir und eines vor mir. Ich habe – wie viele andere auch – Gremiensitzungen, Tagungen, Konferenzen, private und dienstliche Gespräche, Interviews und vielerlei mehr am eigenen Laptop hinter mir, der meistens auf mehreren Büchern auf meinem heimischen Schreibtisch oder auf dem meines universitären Arbeitsplatzes stand. Ich habe so inzwischen auch sehr viele Vorträge gehalten, Podiumsdiskussionen bestritten, sogar Live-Schalten ins Fernsehen. Das ging irgendwie alles ganz gut – besser, als ich zuvor dachte.

 

Aber es gibt eine kleine Verunsicherung, die bemerkenswert ist, zumindest fällt sie mir immer wieder auf. Anfangs war es mir gar nicht klar, aber dann wurde es deutlicher. Das kennen vielleicht viele: Je nach Bildschirmeinstellung sieht man sich auch selbst beim Reden. Etwa in Veranstaltungen mit mehreren Personen, wenn man die Galerieansicht eingestellt hat. Alle erscheinen als Kachel. Man selbst auch. Und man weiß nicht genau, wo man hinschauen muss. Die Videoexperten sagen immer: am besten auf den grünen Punkt oben am Bildschirmrand, weil da die Kamera sitzt. Dann sieht man den anderen richtig ins Gesicht. Wenn man ihnen ins Gesicht sieht, sieht es aus, als würde man an ihnen vorbeischauen oder unter ihnen weg. Das ist schonmal befremdlich. Aber noch befremdlicher fand ich dies: Ich habe mich sehr oft selbst angeschaut. Man mag das für Eitelkeit halten, aber ich kann versichern: Das ist es nicht, denn ich muss gestehen, dass ich mich in dieser merkwürdigen Einstellung ungern sehe. Es sieht komisch aus. Es war etwas Anderes.

 

Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es bemerkt habe, vor allem bei Vorträgen oder längeren Redebeiträgen. Ich habe entweder versucht, auf das grüne Kameralicht zu schauen, oder ich habe unspezifisch geschaut oder auch bestimmte Personen angeschaut, wenn ich sie angesprochen habe, was naturgemäß nicht den Augenkontakt erzeugt, den das Ansehen üblicherweise erzeugt. Aber beim längeren Reden habe ich immer nur mich selbst gesehen, auch wenn ich nur eine kleine Kachel war. Ich habe versucht, das zu vermeiden, aber es ging nicht. Warum?

 

Es hat einige Zeit gedauert, bis ich bemerkte, dass es etwas mit Bewegungen zu tun hatte. Als jemand, der viel zu oft vor Publikum steht oder sitzt und redet, bin ich es gewöhnt, entweder bestimmte Personen im Raum anzusehen oder irgendwie Fluchtpunkte mit den Augen zu adressieren – das kennen wahrscheinlich alle, die solche Dinge tun. Aber hier ging das nicht. Meine Aufmerksamkeit hat sich immer, auf mich selbst fokussiert, aber gar nicht auf mich als Bild, sondern auf meine Bewegungen. Mein Körper, meine Aufmerksamkeit, meine Sinnesorgane konnten gar nicht anders, als sich im eigenen Rhythmus der Bewegungen, die durch das Sprechen und Gestikulieren entstehen, mit meinem eigenen Bild zu synchronisieren – was natürlich Unsinn ist, weil die beiden Bewegungen ohnehin schon strikt gekoppelt sind. Aber die Aufmerksamkeit konnte nicht anders, als auf diese synchrone Bewegung zu achten.

 

Ich habe versucht, es mir abzugewöhnen, aber es ging nicht. Je mehr ich versucht habe, es zu unterlassen, desto stärker war die Aufmerksamkeit darauf gerichtet. Und je weniger es gelang, desto stärker wurde es. Ich bin beim Reden – eine déformation professionelle – eigentlich durch nichts und niemanden aus der Ruhe zu bringen. Aber das hat mich immer wieder ziemlich abgelenkt und verunsichert. Es war irgendwie praktisch und habituell nicht einzuholen, was ich mir kognitiv vorgenommen habe. Es hat mich bisweilen richtig aus dem Takt gebracht – auch widersinnig, weil der Takt ja stets synchronisiert war.

 

Das ging so weit, dass mir diese Verunsicherung bei solchen Lösungen gefehlt hat, bei denen ich mich selbst nicht gesehen habe. Es gab auch Situationen, in denen ich nur mein Gegenüber gesehen habe, es gibt auch Software, die das eigene Bild ausblendet (man muss es dann extra aktivieren, um sich temporär zu sehen). Und das Verrückte ist, dass es in diesen Situationen nicht besser ist, weil meine Aufmerksamkeit dann diesen Anker nicht gefunden hat, an den sie sich trotz aller Verunsicherung gewöhnt hatte. Das war dann manchmal wieder eine Quelle der Verunsicherung.

 

Übrigens: Manchmal war das eigene Bild nicht synchron, bei bestimmten Aufzeichnungen oder bei Schaltungen in Fernsehstudios. Es gibt dann oft ziemliche Verzögerungen, eine Sekunde etwa. Das ist zwar sehr befremdlich, sieht ziemlich doof aus, aber es stört nicht, wahrscheinlich weil meine Wahrnehmung das eigene Bild dann gar nicht als das eigene erkennt. Das heißt, dass ich unterhalb meiner expliziten Wahrnehmungsschwelle für meine Wahrnehmung eine rhythmische Entität bin, die Gestalt und das Aussehen selbst identifiziert der Körper da wohl nicht mit, was irgendwie nachvollziehbar ist.

 

Wir wissen nicht, wie die Krise weitergeht, wann sie vorbei ist und woran wir uns erinnern werden. Ich glaube, diese hier berichtete, eigentlich unwichtige Erfahrung wird etwas sein, was ich, oder besser: mein Körper oder mein Wahrnehmungsapparat nicht vergessen werde. Wahrscheinlich jedenfalls. Ich habe inzwischen wieder Live-Vorträge gehalten, also auf einer Bühne oder an einem Pult stehend. Zumindest haben meine Augen nicht die ganze Zeit nach meinem rhythmischen Pendant gesucht. Also es gibt bis dato noch keinen Phantomschmerz wegen dieser komischen kinetischen Wahrnehmungserfahrung. Aber die steigenden Infektionszahlen legen nahe, dass in den nächsten Wochen oder Monaten eher wieder öfter Zoom-, Webex-, Teams-, Vimex- oder sonstige Plattformen unser aller Habitat sein werden. Vielleicht kommt der Phantomschmerz dann später doch noch.

 

Armin Nassehi, Montagsblock /119

19. Oktober 2020