MONTAGSBLOCK /12

Weniger arbeiten! Eine kleine Entgleisung zu Beginn der Sommerferien.   Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass ein Fisch niemals weiß, wann er pinkelt. Das wiederum ist eins zu eins auf Intellektuelle übertragbar. Der Intellektuelle ist davon überzeugt, intelligent zu sein, weil er sich seines Kopfes bedient. Der Maurer bedient sich seiner Hände, aber auch er hat einen Kopf, der ihm sagen kann: “Hey, diese Mauer ist nicht gerade, und außerdem hast du vergessen, Mörtel zwischen die Steine zu geben.” Nun geht es hin und her zwischen Arbeit und Verstand. Die Eine braucht den anderen und umgekehrt. Stellt sich nur die Frage, ob die Arbeit überhaupt den Verstand braucht – oder der Verstand die Arbeit. Merkt man eigentlich, wenn man arbeitet? Oder macht Arbeiten bloß dumm?
Zweifellos eine Kardinalfrage in der Post-Postmoderne, die global sehr unterschiedlich beantwortet wird. Ein Japaner beispielsweise behält mit Eintritt in seine Firma zwar noch den Verstand, aber seine Arbeitskraft opfert er lebenslänglich Toyota oder Kawasaki. Ein Südsee-Aussteiger behält Verstand und Arbeitskraft bei sich. Er lebt in einem ausrangierten Bus an einer einsamen Bucht abseits jeder Zivilisation. Jeden Morgen steht er, wenn er Lust hat, zeitig auf und schnitzt Sitzbänke, die er via Internet weltweit verkauft. Er kennt überhaupt nicht das Gefühl, zu arbeiten. Womit wir mitten in der Petersilie stehen: Die einen arbeiten wie verrückt, die anderen voller Lust. Und wieder andere verrückt und voller Lust. Wer nun hat den besseren Job? Der Japaner als Spätcalvinist oder der Südsee-Aussteiger als Späthippie?

In Deutschland gehen die Uhren noch ein Stück anders. Über Pflicht oder Kür denken die wenigsten hier nach, die meisten Menschen sind schlichtweg mit ihrem Job unglücklich. Der Grund: Sie tun nicht das, was sie wollen. Und sie tun das, was sie nicht wollen, viel zu lange. Meist ein Leben lang. Ungeachtet ihrer Talente und Fähigkeiten. Diese verkümmern stetig im Riesenrad des falschen Lebens. In Autoverkäufern verdörren Schriftstellertalente, in Steuerberatern sprießen Lokomotivführerträume – vergebens. Ihr gemeinsames Wehklagen gipfelt in der Erkenntnis: Können hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nie getraut. (Übrigens auch ein kleines Plädoyer für descape.com).

Was wiederum historisch erläutert werden muss: Denn die Menschheitsgeschichte kann als eine Geschichte fortlaufender Mühsal und Verirrung interpretiert werden. Zumindest was Arbeit und Verstand betrifft. Die frühen Jäger und Sammler waren nämlich etwas dümmer als die späteren Bauern und Hirtennomaden, mussten aber im Vergleich viel weniger arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Erst mit dem eintretenden Bevölkerungswachstum nach Ende der letzten Eiszeit nahm die Plackerei zu. Denn die Wildbeuter nutzten blöderweise ihren Verstand. Sie begannen, Nutzpflanzen anzubauen und Tiere zu züchten. Schöner Mist! Denn obwohl sie mehr Verstand besaßen, mussten sie plötzlich mehr arbeiten. Das Leben wurde dadurch erheblich unkomfortabler und mühsamer. Es kam, wie es kommen musste. Bereits die ersten Bauernschädel lernten das Gefühl kennen, wie es ist, das Leben zu hassen. Und es kam noch schlimmer. Obwohl die Zivilisation fürderhin außerordentliche Fortschritte vollbrachte und die Arbeit zunahm, sank die Lebensqualität auf breiter Front.

Urbi et orbi. Mit dem Kummer darüber begann das weltanschauliche Nachdenken über die Fron im Diesseits. Schon bald versuchten Jenseitslehren und Weltflucht, den konkreten Weltenjammer zu kompensieren. Religionen und Mythen beseitigten den Erklärungsnotstand, warum mehr Verstand gleichzeitig mehr Arbeit bedeutete, und pusteten überirdischen Sinn ins moralisch-ethische Vakuum. Aus der Welt, wie sie war, wurde nun die Welt, wie sie sein sollte. Aus dem Befund schälte sich die Annahme, aus der Krankheit das Rezept. Nur Verstand und Arbeit überdauerten Hand in Hand alle dunklen Zeiten. Für ihre Ausdauer wurden sie schließlich mit dem Kapitalismus belohnt. Was bekanntermaßen auch seinen Preis hatte: Denn die Arbeit hatte sich zuvor des Verstandes bemächtigt und gleichzeitig das Leben miterobert. Die Frage der Lebens- und Arbeitsqualität wurde zweitrangig. Die früheren Jäger und Sammler drehten sich ein letztes Mal in ihren Hügeln im Grab um. Es war die Geburtsstunde des vieldeutigen Werbezitats: “Ich bin drin.” Im richtigen Arbeitsleben. Ihren Verstand geben Sie bitte an der Garderobe ab!

Vorteil: Die Arbeit stiftete fortan ein Auskommen, damit keiner umkommt. Nachteil: Die Arbeit bedeutete fortan Frondienst, und das schon bald als lebenslange Schufterei im Dienste einer einzigen Firma (ein Vorläufer der japanischen Variante). Im dunklen Bergwerk hämmerte der Steiger, bis der Rücken krumm war. Über Tage zogen kapitalistische Unternehmer daraus unechte Kohle, will sagen Profit. Der Rücken der Kapitalisten krümmte sich zwar auch, meist aber nur infolge des wachsenden Bauches.
Diese Dichotomie zwischen ehrlicher Arbeit mit den Händen und profitabler Arbeit mit dem Kopf durchzog den Kapitalismus einige Jahrhunderte bis zum Ende des Industriezeitalters. Während dieser Zeit wurde der Verstand immer aufmüpfiger, während die Arbeit im Zenit stand. Dann kam es zur fundamentalen Beziehungskrise. Der Verstand warf der Arbeit Entfremdung von der eigentlichen Bestimmung des Menschen vor, als Freie, Gleiche und Brüder miteinander im Einvernehmen zu leben, neudeutsch: zu kooperieren, netzzuwerken und sich gegenseitig zu helfen. So kam es, wie es kommen musste. Rosenkrieg allüberall. Vor lauter Entfremdung wollte irgendwann kein Mensch mehr gerne arbeiten. Geopolitisch entwickelten sich darauf ganz unterschiedliche Responsestrategien. Im Osten wurde der sozialistische Arbeiterstaat aus der Taufe gehoben. Im Westen begann der Sozialstaat, die Folgen des Kapitalismus zu mindern. Was aber hüben wie drüben eine Menge Geld verschlang.

Überdies riefen Ende des 20. Jahrhunderts die Großmäkler das Ende der Arbeit aus. Der Verstand produzierte aus Trotz eine verheerende Arbeitslosigkeit. Die Kapitalisten hatten aus der Geschichte gelernt. Sie rationalisierten die Arbeitsplätze weg. Die Arbeiter hingegen sehnten sich einfach nur ins Paradies zurück, wollten weniger arbeiten, nicht mehr so viel nachdenken und sich mehr leisten. Der Lockruf des Wohlstands als Wohlergehen ohne Arbeit hallte durch alle Gassen. Und wo stehen wir heute? Wenig arbeiten, viel Geld verdienen, im Luxus baden. Blödsinn. Bob Dylan, ein unverdächtiger Zeitgenosse, deutet einen Ausweg aus dem Dilemma an: „Ein Mensch hat Erfolg, wenn er morgens aufsteht und abends zu Bett geht und in der Zwischenzeit genau das tut, was er tun will.“ Wer sagt, dass wir dafür viel arbeiten müssen?

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /12, 01. August 2016