Montagsblock /117

Der heutige Montagsblock ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Er will nicht ausführlich analysieren, keine These vertreten, nicht einmal ein Argument entwickeln – schon, weil die Argumente in diesem Fall einerseits alle ausgetauscht, andererseits selbst das Problem sind. Ich spreche von dem griechischen Flüchtlingslager Moria, in dem katastrophale und menschenunwürdige Zustände herrschen – das auch schon zuvor, aber vor allem weil der von wem auch immer gelegte Brand das Lager zerstört hat. Die Argumente gegen die Forderung, die 13.000 betroffenen Personen alle sofort nach Zentraleuropa, vielleicht auch nur nach Deutschland bringen zu lassen, sind bekannt. Es ist vor allem das lange geübte Argument, es müsse eine europäische Lösung geben, und so lange diese nicht vorliege, sei ein Alleingang Deutschlands geradezu eine Erpressung der europäischen Partner. Auch ist immer wieder der Hinweis zu hören, dass der Brand in dem Lager in der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie eine gewisse Ungerechtigkeit schaffe, weil es noch andere Lager gebe und andere Menschen, die nicht auf den Bildschirmen unserer Beachtung auftauchen. Und es ist immer wieder davon die Rede, wir dürften unser Verhalten nicht von unmittelbarem Sentiment abhängig machen, sondern müssten das Ganze im Blick behalten – und überhaupt die angeblichen Pull-Faktoren und die Frage nach einer durchdachten Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Das Drehbuch dieser Statements ist lange geschrieben und unendlich wiederverwendbar.

Das Schlimmste daran ist, dass einige der Argumente, die gegen eine unmittelbare, durch Sympathie, durch Mitleiden induzierte unmittelbare Hilfe sprechen, nicht vollständig falsch sind. Weder das Argument der Aufmerksamkeitsökonomie noch das der Folgen für eine europäische Migrationspolitik aus einem Guss sind ganz von der Hand zu weisen. All das stimmt irgendwie – aber es führt mich zum Gegenteil dessen, wofür diese Argumente immer wieder vorgebracht werden.

Denn die Hilflosigkeit dieser Argumente spricht in einer eigentümlichen Widersprüchlichkeit sogar explizit dafür, unmittelbare Hilfe für die betroffenen Personen zu üben und sich nicht hinter den großen Fragen zu verschanzen. Denn bisher sind alle Versuche, mit dem Problem angemessen umzugehen, gescheitert. Warum gibt es diese europäische Lösung nicht? Warum verschwindet das Problem unter der Beachtungsschwelle, warum kommt es überhaupt mitten in Europa, auch wenn es an seinen geografischen Rändern passiert: mitten in Europa zu solchen Elendssituationen?

Wer die Forderung nach unmittelbarer Hilfe als zu sentimental oder gar als Affekt abtut, sieht nicht, wie nachgerade automatisch, fast habituell die Gegenargumente funktionieren. Man kann zugleich sehen, dass die drehbuchhaft vorgetragenen Gegenargumente auch affektuell davon entlasten, sympathischer Betroffenheit zu unterliegen. Dass diese derzeit unbeantwortbaren Fragen im Kleide von Sachargumenten daherkommen, verstärkt diese Entlastungsfunktion. Denn würde man die Fragen nach dem Fehlen einer europäischen Lösung oder einer humanitären Flüchtlingspolitik wirklich beantworten, könnte man die im Einzelnen nicht ganz falschen Argumente gegen eine unmittelbare und unbedingte Hilfe nicht mehr so einfach formulieren. Denn man müsste so tun, als sei eine europäische Einigung in dieser Frage überhaupt am Horizont und als würde sich eine durchdachte Strategie überhaupt abzeichnen. Das ist aber immer weniger der Fall.

Man würde darauf stoßen, dass die gegenwärtige Unlösbarkeit des Problems auch selbstgemacht ist – in Syrien durch einen Krieg, gegen den Europa nichts ausrichten will, in afrikanischen Ländern durch eine auch europäische Wirtschaftspolitik, die diese Länder ökonomisch nicht auf einen grünen Zweig kommen lässt, nicht zuletzt durch diejenigen Kräfte in solchen Ländern, die von solchen Hindernissen profitieren. Nicht zu vergessen die Türkei, die mit diesem Problem ein geopolitisches Süppchen kocht. Wie gesagt, ich will das gar nicht analysieren – und die angesprochenen Fragen sind viel komplexer, als ich sie hier andeute. Aber das, was wir in Moria gerade sehen, auch die gleichzeitige Überforderung und Brutalität der örtlichen Ordnungskräfte, ist keine abstrakte Kategorie, sondern hier und jetzt bedeutsam – in seiner Dimension unerträglicher Lebensverhältnisse ebenso wie in seiner Beschämung für ein Europa, das an diesem Fall demonstriert, dass es radikal an sich selbst scheitert.

Es gibt derzeit eine Vordringlichkeit des Aktuellen vor der Lösbarkeit der prinzipiellen Probleme. Den 13.000 Menschen unmittelbar und nachhaltig zu helfen (was wohl heißt, den größten Teil nach Deutschland zu holen), löst keines der angesprochenen strukturellen Probleme, kein einziges. Aber auch das spricht nicht dagegen, genau das zu tun, im Gegenteil! Und ich will sagen: Das ist kein sentimentales Argument, sondern das Eingeständnis einer Kapitulation vor Verhältnissen, die durch viele Faktoren verursacht worden sind – auch durch viele, die wir selbst gar nicht kontrollieren können. Vielleicht bedarf es jetzt, in dieser Situation, einer konkreten Lösung, die sich selbst von dem Phantasma befreit, eine Lösung für das Gesamtproblem sein zu müssen. Und um es unumwunden zu sagen: Wer diese durchaus moralische Forderung damit abtut, es gebe doch noch andere, vielleicht viel schlimmer Betroffene, denen damit nicht geholfen wäre, hätte mein Argument nicht nur nicht verstanden, sondern weigerte sich sogar, es verstehen zu wollen.

Ist das ein naives Argument? Ja, vielleicht. Aber mir fällt beim besten Willen keines dagegen ein. Und vielleicht ist es noch naiver, zu glauben, gerade dieser Fall könnte dazu beitragen, das Drehbuch zu verlassen und die Dringlichkeit größerer Lösungen anzugehen. In guter Tradition könnte man sagen: credo, quia absurdum.

Armin Nassehi, Montagsblock/ 117

21. September 2020