Montagsblock /116

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Blick zurück. Mitte 1949 besuchte Ludwig Wittgenstein auf Einladung seines Freundes Norman Malcolm die USA. Wittgenstein wollte sich dort vor allem mit den Schriften von George Edward Moore über den gesunden Menschenverstand auseinandersetzen. Einem Verfechter der Common-Sense-Philosophie. In seinem Buch „Proof of an External World“ hatte Moore eine Reihe von Sätzen formuliert, von denen „er mit Sicherheit wusste, dass sie wahr seien“. Er war sogar der Auffassung, die Menschheit könne sich auf ein Set von unumstößlichen und unangreifbaren Wahrheiten verlassen. Zum Beispiel: „Die Erde bestand lange vor meiner Geburt“. Auf den ersten Blick waren es Sätze, die niemand nur im Geringsten anzweifeln würde. Wittgenstein als Meisterskeptiker seiner Zeit tat dies sehr wohl und beschäftigte sich fortan in den eineinhalb Jahren bis zu seinem Tode intensiver mit den Bedingungen, inwieweit man überhaupt Gewissheit und Wahrheit erlangen kann. Es ging ihm dabei aber nicht so sehr um die Tatsache der eindeutigen Wahrheitsaussage als vielmehr um den Erkenntnispfad, den Menschen beschreiten, wenn sie zu einer gewissen Wahrheit gelangen wollen.

Jetzt. 70 Jahre später. Corona-Demos in Deutschland. Menschen berufen sich auf den gesunden Menschenverstand und sprechen von einer Gewissheit, die anders aufgeladen sei als die vorherrschende Wahrheit in Politik und Medien. Der langsame, vorsichtige Erkenntnisweg ist ihnen ein Dorn im Auge. Stellvertretend eine Leserzuschrift an die Süddeutsche Zeitung: „Wie kann man nur Menschen, die den gesunden Menschenverstand noch nicht abgelegt haben, die den Diskurs suchen, die sich nicht einfach Verordnungen – von wem auch immer und hauptsächlich zur Verstärkung von Angst – unterordnen, ohne je mit ihnen gesprochen haben, so behandeln?“ Im Hintergrund lauere, so der Tenor vieler weiterer Zuschriften, die Überzeugung, Corona sei viel weniger gefährlich als publiziert. Alternative Wahrheit. Neue Gewissheit. Überlegenheit. Spaltung.

Intermezzo. Wittgenstein kam in seinen Überlegungen zur Gewissheit zu dem Ergebnis, dass selbige immer nur individuell sei. Und damit in gewisser Weise auch nur vorläufig. „Ich handle mit voller Gewissheit. Aber diese Gewissheit ist meine eigene.“ Das Problem, so Wittgenstein, sei die die jeweilige Begründungslogik dahinter. Hier unterscheidet er zunächst zwischen Wissen und Glauben. Die Erde ist keine Scheibe. Jesus verwandelt Wasser in Wein. Wittgenstein folgert daraus: Wer etwas weiß, sei zu einer Rechtfertigung verpflichtet. Wer etwas glaubt, braucht keine. Umgekehrt bedeutet dies: Glauben hat eine subjektive Wahrheit, Wissen nicht. Hinzu kommt, dass in der Gewissheit des Wissens jeder Irrtum ausgeschlossen sein muss. In der Gewissheit des Glaubens muss nur der Zweifel ausgeschaltet werden, um den Anderen von meiner subjektiven Gewissheit zu überzeugen. Die Wandlung von Wasser in Wein ist bis heute in jedem Gottesdienst unbestritten. „Die Erde ist rund“ steht bereits in jedem Schulbuch der ersten Klasse.

Conclusio. Der sogenannte gesunde Menschenverstand, der bei Corona-Skeptiker*innen den Eckpfeiler der Gewissheit bildet, suggeriert eine Art von gemeinsamem Glaubensschatz, der sich über die Jahrhunderte jenseits des wissenschaftlichen Wissens herausgebildet hat. Eine Art von Resonanzraum, der als erkenntnistheoretischer Inhalator dient. Zweimal tief einatmen, Wahrheitspanzer anlegen, Wissen und Glauben vereinigen zur großen Wahrheit. Jeder Zweifel ausgeräumt. Der zweite Erkenntnispfad der Wissenschaft hingegen sucht den Irrtum auszuschalten. Seit wann existiert die Erde? Das ist mühsamer, weil eben ein langwieriger Weg, auf dem sich Kohärenz und Konsistenz auszuprägen versuchen. Hier werden Erkenntnisse ständig auf mögliche Irrtümer geprüft und womöglich verbessert. Zweifel included! Das dauert ewig. In Wittgensteins Worten: „Unsinn aber wäre es zu sagen, wir betrachten etwas als sichere Evidenz, weil es gewiss wahr ist.“

Der Gebrauch von „wahr“ und „falsch“ führt in die Irre. Ein Erkenntnisweg sucht langfristig die Übereinstimmung des Wissens mit den noch nicht sichtbaren Tatsachen. Jemand, der glaubt, will eine Entscheidung herbeiführen. Sofort. Jemand, der weiß, sucht nach Übereinstimmung, die wiederum ungewiss bleibt. Langsame Entwicklung. Der gesunde Menschenverstand als Mustertopos des subjektiven Glaubens will sich gar nicht rechtfertigen. Die Wissenschaft als ständiger Anpassungsmechanismus an die eingebauten Irrtümer sucht überhaupt keine sichere Evidenz als Endpunkt. Deshalb, Ihr Corona-Kritiker*innen und -Skeptiker*innen überall, lasst euch gesagt sein, und hier müssen wir ein letztes Mal den großen Wittgenstein zitieren: „Seltsamer Zufall, dass alle die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten!“

Peter Felixberger

Montagsblock /116, 07. September 2020