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Ein Abend mit Freunden in der Corona-Lockerung. Weiter Blick übers Tal in das Wellengrün der Felder. Glühwürmchen und Zikaden. Oh, du schönes Bayernland! Im Verlauf des Abends weben wir, wie vermutlich vielerorts, an dem großen Flickenteppich aktueller Corona-Erörterungslagen. Der Staat wird für seine unumstritten erfolgreiche Fürsorge gelobt, gleichzeitig seine ungerechte Post-Almosenverteilung kritisiert. Solidarität mit der Clubszene! Die Medien werden kritisiert für ihre überstürzt endgültigen Bewertungen vorläufig wissenschaftlicher Erkenntnisse, gleichzeitig aber gelobt für ihren tapferen Gerechtigkeitsjournalismus. Schließlich wird noch medizinisches Halblaienwissen eingeflochten, das der ältere Arzt in der Runde mit der Gelassenheit der Praxisjahrzehnte am Strand der letzten Wahrheiten ausplätschern lässt. Dennoch spüren wir alle, dass es eine Entscheidung aus einem Guss nicht geben kann. Unser Fazit: Wir müssen den Mix aus unsicherer wissenschaftlicher Erkenntnis, medialer Übersprungsrhetorik und individuellen Selbststeuerungswünschen immer wieder neu austarieren und unsere Lebens- und Arbeitswelten danach ausrichten.
Am nächsten Morgen. Der Versuch, die Unübersichtlichkeit des Vorabends zu bändigen. Die Corona-Pandemie öffnet, so beginne ich meine Denkspur, den Blick auf die Widersprüche moderner Gesellschaften, mit denen sie ihr Überleben sichern. Denn einerseits konnte die Politik im Shutdown als alleiniger Souverän und Fürsorger über seine Bürger wachen und sie bis in die kleinste soziale Facette kontrollieren. Andererseits können die Bürger jetzt in der ersten großen Lockerungsphase fordern, dass sie als Selbstorganisierte immer mehr in die individuelle Freiheit entlassen werden. Dahinter steht allerdings ein grundsätzliches Vertrauensproblem. Denn sowohl im Shutdown als auch in der Lockerung bedarf es eines ersten impliziten Vertrauensschrittes der jeweiligen Seite. Check it out: Der Bürger schenkte der Politik im März das Vertrauen, die erforderlichen Maßnahmen in der Epidemie mitzutragen. Andererseits müsste die Politik nun im Juni dem Bürger das Vertrauen schenken, sein Leben wieder stärker selbst zu regulieren.
Willkommen im Dilemma von Fürsorge und Selbstorganisation. Einerseits sorgt die Politik für ihre Bürger, andererseits sorgt der Bürger für sich selbst. Er will sich in der Mittelstandswärme selbst versorgen, ohne auf die Hilfe des Staates angewiesen zu sein. Die Politik benötigt aber für ihr Fürsorge-Business ganz dringend hilfsbedürftige Bürger, die sie versorgen kann. So schwingt das Pendel immer hin und her und paradoxiert sich fortlaufend. Politik muss politisch steuern. Bürger wollen sich selbst steuern und nur im Notfall unterstützt und versorgt werden. Je nachdem kommt es zu Formulierungs- und Übersetzungsproblemen. Das Virus ist lebensgefährlich bedrohlich! Das Virus ist weder tödlich noch außer Kontrolle! Narrativ jeweils flankiert von schweren oder asymptomatischen Krankheitsverläufen.
Wir halten fest: Armin Nassehi hat recht, wenn er nimmermüde auf die Nichtexistenz einer Gesellschaft aus einem Guss hinweist. So gilt auch im Corona-Zeitalter weiter die systemische Unvereinbarkeit einer Herrschaft von oben und einer Selbstorganisation von unten. Was nicht schlimm ist. Es ist das Wesen der Demokratie. Einer Mischung aus korporatistischer Fürsorge, sozialer Kooperation und liberaler Selbstorganisation. Hierarchie, Solidarität und individuelle Freiheit. Eine diesbezüglich pandemisch-angepasste Verteilungsarchitektur zu erreichen, ist das tägliche Ringen um die gegenseitige Anerkennung zwischen Souverän und Bürger. Den Rattenfängern auf beiden Seiten (Verschwörungstheoretiker-Allmachtspolitiker) ist zu misstrauen. Darauf haben wir am Ende des Abends noch lachend angestoßen und uns die neuesten Ungeheuerlichkeiten aus den Untiefen des Internets erzählt.
Peter Felixberger
Montagsblock /110, 15. Juni 2020