Montagsblock /111

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Wenn wir einst auf die gegenwärtige Krise zurückblicken werden, werden uns wahrscheinlich Begriffe einfallen, die in letzter Zeit die öffentliche Kommunikation geprägt haben. Mit darunter werden vielleicht »Lockdown« sein oder »Kontaktbeschränkung«, vielleicht auch »R-Wert« oder »Monitoring«. Ganz bestimmt aber »Systemrelevanz«. Gemeint sind vor allem Berufe bzw. Personen und ihre Tätigkeiten, die in besonderem Maße in den Vordergrund traten: medizinisches und pflegerisches Personal, Verkaufspersonal oder überhaupt Personal mit häufigem Kundenkontakt und nicht zuletzt Personen, die sich um andere kümmern mussten, zumeist in Familien, die stark auf sich zurückgeworfen wurden. Wir sind an den Satz gewöhnt, es seien vor allem Frauen, die durch die Krise verloren haben, weil in allen genannten Gruppen eindeutig ein Überschuss von Frauen zu beobachten ist. Dass es diese Gruppen waren, die besonders sichtbar wurden, ist nicht verwunderlich, und was da von Vielen geleistet werden musste und muss, ist enorm. Aber was meint der Terminus »systemrelevant«?

 

In der ökonomischen Sprache sind es diejenigen Bereiche, die unbedingt nötig sind, damit Strukturen und Prozesse aufrechterhalten werden können, auch diejenigen, deren Kollaps anderes mit sich reißen würde. Wir erinnern uns an die vorletzte Krise, die Bankenkrise, in der Systemrelevanz keineswegs ein Qualitätsmerkmal, sondern eine Gefahrenanzeige war: Wer »too big to fail« ist, ist kein Überperformer, sondern einer, der zu schwach ist, aus eigener Kraft zu existieren. Systemrelevanz ist hier kein Anerkennungsmerkmal, sondern eher eine Krisendiagnose.

 

In der Corona-Krise war und ist »Systemrelevanz« eher als Anerkennungskategorie gemeint: Seht her, was wären wir alle ohne die Heldinnen und Helden des Alltags, die eine Arbeit verrichten, die zumeist zu wenig Anerkennung bekommt: einfache Servicetätigkeiten mit Kundenkontakt im Einzelhandel; vergleichsweise gut bezahltes medizinisches Personal in den Kliniken, aber vergleichsweise schlecht bezahltes Pflegepersonal ebendort; Betreuungsarbeit im privaten und familialen Umfeld, die durch den Ausfall von Institutionen der Kinder-, aber auch Altenbetreuung an ihre Grenzen kam. Als Anerkennungsbegriff taugt »Systemrelevanz« tatsächlich gut: Wir werden in dieser Krise auf Funktionen hingewiesen, die wie selbstverständlich vorausgesetzt werden, bevor wir üblicherweise über die großen Fragen der Gesellschaft disputieren oder uns fragen, wer wir sind. Es sind Funktionen, die bisweilen unsichtbar bleiben, weil sie schlicht vorausgesetzt werden. Im Falle der Pflege wird das schon länger diskutiert, auch das, was derzeit unter den Labeln »Sorge-Arbeit« oder »Care« verhandelt wird, verweist auf ein für die moderne Gesellschaft konstitutives Verhältnis von Erwerbsarbeit und aus den geldwerten Anerkennungsformen der Erwerbsarbeit herausfallenden lebensnotwendigen Tätigkeiten wie Betreuung, Versorgung von Angehörigen, die Erziehung von Kindern, nicht zuletzt die Hausarbeit. Dass diese Frage eine geschlechtliche Komponente hat, ist unbestritten. Ebenso unbestritten ist, dass sich das Problem nicht durch Übertragung der Logik der Erwerbsarbeit auf diese Bereiche lösen lässt. Und noch unbestrittener ist, dass sich diese Frage an vielen Stellen neu stellen wird und neu ordnen muss. In der Corona-Krise ist das nur zu deutlich geworden.

 

Aber wie verhält es sich mit der »Systemrelevanz« als analytischer Kategorie? Was ist relevant für ein System? Es kommt darauf an, was man mit »System« konnotiert. Ganz einfach könnte man sagen: Alles, was für den Bestand eines Systems wichtig ist, ist systemrelevant. Das gilt zum Beispiel für einen Organismus: Ist Herz oder Leber wichtiger? Man möchte nicht die Probe aufs Exempel machen, denn beide Organe sind für den Bestand des Lebens in dem Körper systemrelevant. So gesehen könnte man sich dann tatsächlich streiten, ob es denn dann nicht auch weniger systemrelevante Teile des Organismus gibt. Die Milz zum Beispiel oder ein Bein oder auch das Augenlicht sind je für sich schon wichtig, aber deren Verlust würde zumindest das Gesamtsystem nicht vollständig zum Kollaps bringen, und es würde durch Anpassungsvorgänge doch irgendwie weitergehen. Aber ganz so statisch kann man Gesellschaftssysteme nicht denken.

 

Ohne nun auf systemtheoretische Spitzfindigkeiten zu kommen, kann zumindest gesagt werden: Es ist kein Zufall, dass man im Hinblick auf soziale Systeme, auf Gesellschaft, von Bestandsfragen, also von der Frage nach dem Bestand der Struktur, auf Prozessfragen umgestellt hat, also darauf, wie die unterschiedlichen Teile oder Elemente eines Systems in ihrem Prozessieren voneinander abhängig sind, wie sie sich gegenseitig ermöglichen und stören, was für alternative Konstellationen denkbar sind und wie sich das in jeder Gegenwart neu ordnen muss. Das ist es nämlich, was sich in der Corona-Krise vor allem gezeigt hat: nicht die Systemrelevanz einzelner Bereiche. Es war eher der Hinweis darauf, wie abhängig die unterschiedlichen Teile eines komplexen Gesellschaftssystems ineinandergreifen. Wir haben jetzt gemerkt, wie stark Familienformen, Geschlechterverhältnisse und Alltagsentlastungen von funktionierenden Institutionen der Kinderbetreuung abhängig sind. Wir haben gelernt, wie sehr die Existenz von Unternehmen von permanentem Cashflow abhängig ist, der wiederum direkt mit der räumlichen Beweglichkeit von Zahlern in Form von Käufern, Restaurantbesuchern, Touristen usw. zu tun hat. Wir haben gelernt, dass Produktion nicht nur von der Präsenz von wertschöpfenden Personen abhängig ist, sondern auch von Zulieferungen und von Absatzmöglichkeiten. Wir haben gelernt, dass die Machtausübung des Staates nicht nur von ihm selbst ausgeht, sondern von Parametern, die er selbst gar nicht kontrollieren kann. Und wir haben gelernt, wie prekär die Herstellung von Kontinuität in Lebensverläufen in einer volatilen Welt ist. Wir haben gelernt, welche Bedeutung die Begegnung mit Personen außerhalb des eigenen Nahraums der Familie vor allem für Kinder ist. Und wir haben gemerkt, wie abhängig die Langeweile psychischer Systeme in modernen Gesellschaften, die eben nicht mehr vollständig durch ihre soziale Position geführt werden, von der Ablenkung durch Erlebnis, Konsum und unbeschwerten Kontaktaufnahmen ist. Wir haben auch gelernt, wie stark politische Entscheidungen von der Wissenschaft abhängig werden können, dass Wissenschaft aber intern kaum in der Lage ist, Eindeutigkeiten anzubieten, zugleich aber politisch damit umgehen muss. Wir haben gelernt, wie sehr die basalen Tätigkeiten in der Gesellschaft davon abhängig sind, dass Banken funktionieren, ebenso aber auch die Müllabfuhr und die Polizei. Wir haben gelernt, wie leicht man »systemrelevante« Tätigkeiten vermisst, weil man sie einfach voraussetzt – denn während man die Kassiererin im Supermarkt oder die Krankenschwester im Krankenheus gefeiert hat, blieb die Produktion dessen, was man da verkaufen kann oder die Lieferung von Medikamenten und die Produktion von Masken nahezu unbemerkt. Man hat ein wenig davon gesehen, als Fleisch- und Schlachtbetriebe in Westfalen und in Ostwestfalen-Lippe zu Corona-Hotspots geworden sind, die dann auch noch auf unwürdige Lebensbedingungen aufmerksam gemacht haben. Und wir lernen zusätzlich, dass diese unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen für die betroffenen Personen einen sozialen Aufstieg bedeuten, wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev in einem Tagesspiegel-Interview sagte: »Ich habe in bulgarischen Medien keinen Ärger über die Vorkommnisse in der Fleischfabrik wahrgenommen. Europa hat in der Krise gelernt, wie sehr manche Wirtschaftszweige in Westeuropa und Deutschland abhängig sind von Arbeitern aus Ost- oder Südosteuropa. Wenn Sie an die niedrigen Löhne bei uns denken, verstehen Sie, dass ein Arbeitsplatz in Westeuropa für unsere Arbeiter einen sozialen Aufstieg bedeutet.« Hört sich das zynisch an? Ja – und trotzdem, es ist eine Interdependenz, die nun sichtbar wird.

 

Es geht hier gar nicht mehr um die Systemrelevanz in dem Sinne, was wichtig ist und was nicht. Dass in der Krise nun ausgerechnet die genannten, am Leben und an der Lebensführung orientierten Tätigkeiten als besonders systemrelevant erscheinen, ist eher arbiträr. Entscheidender ist, dass wir lernen, wie radikal interdependent ein modernes Gesellschaftssystem ist, wie komplex die internen Beziehungen sind, wie stark vieles auf Wechselwirkungen beruht – aber auch, dass all das nicht statisch angeordnet ist, sondern sich prozesshaft ereignet. Wir lernen aus der Krise, wie sehr wir uns an eine funktionierende Ordnung gewöhnt haben, die aber alles andere als alternativlos ist, obwohl sie so stabil erscheint.

 

Systemrelevant ist vor allem der Gedanke, dass der eher scherzhaft gemeinte Satz, dass »alles mit allem zusammenhängt«, stimmt – und auch wieder nicht. Denn wir erleben beides: eine radikale wechselseitige Abhängigkeit unterschiedlicher Bereiche, aber auch den Eigensinn und die Eigenlogik bestimmter Formen. In der Krise zeigt sich die Gesellschaft, wie sie ist: Sie ist nicht, sie prozessiert, sie sucht nach Lösungen, sie findet welche, sie kann in Alternativen denken, sie lässt vorherige Sicherheiten schwinden (die »schwarze Null« zum Beispiel in Bezug auf Europapakete) und wird doch geradezu unerhörter Stabilitäten gewahr. Die Krise ist ein echter Lernanlass. Und Lernen, das ist wirklich systemrelevant.

 

Armin Nassehi

Montagsblock /111, 29. Juni 2020