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Garantiert virenfrei, aber hoffentlich ansteckend: Ich nutze den österlichen Montagsblock für eine Selbstanzeige: Am Mittwoch erscheint mein neues Buch Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests in der kursbuch.edition. Protest ist eine besondere Kommunikationsform. Protest sagt »Nein«. Damit ist Protest nicht nur eine besondere Kommunikationsform, sondern setzt am Mechanismus der Kommunikation selbst an. Wenn man Kommunikation nicht gemäß einem eher einfachen Alltagsverständnis für ein Medium des Einverständnisses oder der gelungenen Übertragung von Sinn, Information oder Einverständnis von einem Kopf in den anderen fasst, stößt man auf eine Besonderheit der Kommunikation: Von Kommunikation kann man erst sprechen, wenn in einer Ereignisreihe das nächste Ereignis auch anders ausfallen könnte. Wenn auf ein Wort als nächstes nur ein ganz bestimmtes folgen kann, sollte man nicht von Kommunikation sprechen. Eine Billardkugel, die von einer anderen getroffen wird und sich gemäß dem Aufprallwinkel weiterbewegt, kommuniziert nicht mit der anderen Kugel. Erst wenn sie sich auch anders als mit dem entsprechenden Winkel bewegen könnte, würden wir der Intuition folgen, von Kommunikation zu sprechen. Die Kugel kann nicht »Nein« zum Stoß der anderen Kugel sagen. Das »Nein« oder wenigstens das potenzielle »Nein« macht die Kommunikation erst zur Kommunikation. Das »Nein«, nicht das »Ja« ist der positive Wert der Kommunikation. Protest gegen die Bestätigung des Bestehenden ist der Kommunikation gewissermaßen strukturell eingeschrieben. Wer kommuniziert oder kommunizieren lässt, wer auf Kommunikation setzt oder auch nur angesprochen wird, setzt sich dem Risiko einer Nein-Stellungnahme und damit der Veränderung der Welt aus.
Mit diesem abstrakten Gedanken beginnt das Buch, denn nur so lässt sich Protest verstehen. Gesellschaftliche Ordnung und Struktur setzt sich letztlich gegen diese Möglichkeiten der Nein-Stellungnahme durch. Es braucht viel Energie, Kommunikation zu einem Ja zu nötigen, zur Bestätigung des Erwartbaren, zur Affirmation des Bestehenden. Die Medien dazu sind Macht oder Motive oder kulturell vermittelte Einstellungen, zum Teil Kommunikationsmedien wie Geld oder wissenschaftliche Wahrheit oder Rollen in Organisationen, also all das, was das gesellschaftliche Leben erwartbar und regelhaft macht. Die Gesellschaft ist musterhafter, regelhafter und strukturierter, als wir denken.
Damit Gesellschaften das Ordnungsproblem lösen, müssen sie Nein-Stellungnahmen institutionalisieren. Man könnte sagen: Sie müssen »Ja« sagen zu einer Art eingehegtem »Nein«. Man denke etwa an Gerichtsverfahren, in denen der Widerspruch, das Nein explizit gehört werden muss. Man denke an parlamentarische Verfahren, die die Opposition institutionalisieren. Man denke an den Buchdruck und die Medien, die das Nein und die Kritik herausfordern. Man denke auch an Bildungsprozesse, in denen wir von Lehrpersonen explizit zur Kritik aufgefordert werden. Die moderne Gesellschaft hegt mit ihren Institutionen das »Nein«, die Kritik geradezu in allen Lebensbereichen ein und kann deshalb pluralistischer und liberaler sein als frühere Gesellschaften.
Protest entsteht dort, wo den Protestierenden die eingehegte Stellungnahme als Nein nicht ausreicht. Protest protestiert letztlich nicht nur gegen die Herrschenden, gegen die Regierenden, gegen die Machthaber, gegen das Establishment, sondern auch gegen die institutionalisierte Opposition, gegen das »Nein«, das institutionalisiert ist. Protest findet auf der Straße statt, außerhalb der Parlamente, mit anderen Formen, laut, bisweilen vereinfachend und vor allem in charismatischen Formen. Man könnte sagen: Protest entsteht dann, wenn gesellschaftliche Problemlagen entstehen oder auch nur so definiert werden, wenn die Protestierenden sich innerhalb der Institutionen, etwa des Parlamentarismus, nicht durchsetzen können. Dieser Mechanismus gilt unabhängig von den Inhalten oder auch der Ausrichtung des Protests – und er gilt unabhängig davon, ob die Forderungen des Protests legitim sind oder nicht.
Diese Form des Protests ist es, an der man seine Eigendynamik und Tragik erklären kann. Protest ist eine flüchtige Sozialform. Er ist schwer auf Dauer zu stellen, weil er fast nie genau das erreichen kann, was er beabsichtigt. Um sich sichtbar zu machen, um die Motive der Protestierenden zu binden und zu stabilisieren, muss sich Protestkommunikation oftmals steigern, dramatisieren und nicht zuletzt vereinfachen – etwa auf Slogans, auf skandierbare Formeln oder auch auf zu einfache Kausalitäten und Schuldzuweisungen. Mit der Steigerung wird die vollständige Erreichung des Protestziels noch unwahrscheinlicher.
Und dennoch: Protest hat eine wichtige Funktion für die Gesellschaft – für eine moderne Gesellschaft umso mehr, die so etwas wie Vetospieler nicht kennt, gerade weil sie letztlich jedes Problem und jede Frage in ihren differenzierten Institutionen kleinarbeitet. Protest versucht, genau diese Stelle des Vetospielers einzunehmen – natürlich kann Protest kein Vetospieler sein. Aber seine Funktion ist es, den Vetospieler zu simulieren und so die Institutionen der Gesellschaft dazu zu zwingen, sich mit den Protestthemen zu beschäftigen. Darin ist Protest ein Demokratiegenerator, weil er Themen bearbeitbar und politisch relevant macht, die sonst nicht gehört würden.
Das beste gegenwärtige Beispiel ist die Klimabewegung Fridays for Future. Es ist keineswegs so, dass deren Forderungen 1:1 umgesetzt würden oder auch werden könnten. Aber der enorme Erfolg dieser Protestbewegung besteht darin, dass kein politischer Akteur mehr am Thema des Klimawandels vorbeikommt. Das ist der eigentliche Erfolg der Bewegung – selbst wenn das Thema in den gesellschaftlichen Institutionen wieder kleingearbeitet werden (muss). Insofern kann man gesellschaftlichem Protest eine wichtige politische Funktion bescheinigen.
Einziger Wermutstropfen: Der besagte Mechanismus gilt nicht nur für sympathischen oder legitimen Protest. Er gilt auch für gegenteilige Formen, etwa Pegida oder anderen rechtsradikalen Formen. Wie es der Klimabewegung gelingt, das Klimathema nicht verschwinden zu lassen und damit wenigstens sehr indirekt mitzuregieren, regiert Pegida seit Jahren migrationspolitisch mit, selbst wenn das die politischen Entscheidungsebenen womöglich nicht einmal so wahrnehmen würden. Die Funktion des Protests und sein Mechanismus sind beide blind für den Protestinhalt – seine politische Bewertung trifft natürlich nicht auf blinde Augen und Ohren.
Und was ist derzeit los? Die größten denkbaren Eingriffe in die individuellen, ökonomischen, wissenschaftlichen, religiösen und kulturellen Freiheitsrechte – und nirgendwo Protest, allenfalls irgendeiner der üblichen verdächtigen Nörgler oder jemand, der aus Protest auf einer Parkbank ein Buch liest. Doch eine Gesellschaft aus einem Guss? Es ist tatsächlich erstaunlich, wie bereitwillig die Bevölkerung die massiven Maßnahmen mitträgt. Das kann nur ein Hinweis darauf sein, dass die Maßnahmen als legitim gelten – es ist auch in dieser Hinsicht ein Ausnahmezustand. Dazu ist viel geschrieben worden – und bestätigt meine These, dass Protest kein Selbstzweck ist und nur dann entsteht, wenn die Absorption von Nein-Stellungnahmen als zu extrem angesehen wird. Es hat nicht nur keinen Protest gegeben, selbst die Legislative blieb bei allen Aktivitäten der Exekutive still. Das widerspricht allem, was wir kennen – nochmal: Ausnahmezustand. Manche werden schon ganz nervös ob der ausgebliebenen Protestbereitschaft – offensichtlich waren und sind die Leute mehr mit sich beschäftigt. Aber jetzt wird der Diskurs um den Einstieg in den Ausstieg begonnen, und hier dürfte das Protestpotenzial exponentiell (muss man nicht mehr erklären!) steigen. Denn nun wird es Kontroversen geben, und nun wird die Opposition zu wenig Opposition sein, und nun werden Maximalforderungen gegen eine komplexere Wirklichkeit ankämpfen müssen, und nun wird es zu einer Epidemie von Nein-Stellungnahmen kommen. Und zu Protest. Spätestens wenn die ersten Demonstrationen und Protestnoten wieder da sind, ist die Krise vielleicht noch nicht überwunden, aber zeichnet sich die Überwindung ab.
Armin Nassehi
Montagsblock /105, 13. April 2020