Montagsblock /177

Vorletzte Woche war ich in Trient eingeladen, um dort im Wissenschaftsmuseum “Muse” über Astrophysik zu sprechen. Das Konzept der Veranstaltungsreihe sieht vor, dass jeweils ein lokaler Wissenschaftler mit einem extern eingeladenen Gast diskutiert. In meinem Fall war mein lokales Gegenüber der Philosoph Paolo Costa, und auf mich waren die Veranstalter offenbar gekommen, weil mein Buch “Das Universum und ich” auch ins Italienische übersetzt worden war. Wir würden über Astrophysik und ihre philosophischen Implikationen sprechen — so viel war nach dem digitalen Vorgespräch klar, obwohl die Absprache unter widrigen Bahn-Wlan-Bedingungen eher fragmentarisch geblieben war. Paolo Costa hatte mehrfach den Begriff “wisdom” erwähnt, der sei ihm wichtig und den würde er mit mir diskutieren wollen. Was Weisheit mit meinem Zugang zur Astrophysik zu tun haben würde, war mir nicht ganz klar geworden. Aber bislang hatte es für mich immer gut geklappt, mich von den Details öffentlicher Diskussionen spontan überraschen zu lassen, insofern ging ich dem erstmal nicht weiter nach.

Ein paar Tage vor der Veranstaltung schickte Costa mir dann seinen Input, auf dem unsere Diskussion basieren sollte, zusammen mit zwei Artikeln, von denen er dachte, dass sie für mich interessant sein könnten. In einem der beiden ging es um die Wiederverzauberung der Welt, ausgehend von einer im Artikel eingangs beschriebenen intensiven Naturerfahrung in den Bergen und deren besonderer Wirkung. Der Artikel kritisierte Max Webers Konzept der Entzauberung der Welt als zu wenig differenziert. Man müsse unterscheiden zwischen “demagification”, “desacralization” und “detranscendentalization”. Dann könne man der (Wieder-)Verzauberung der Welt, die man etwa im seltenen Gefühl des Einswerdens mit der Natur erlebt, auch in unserer heutigen wissenschaftsnahen Kultur noch sinnvoll vertreten können, und zwar im Sinne einer Welt, mit der man in Resonanz stehen kann, indem man der eigenen Umgebung einen besonderen inhärenten Wert zugesteht. Auch wenn man nicht die Position vertrete, dass es in der Welt mysteriöse Kräfte und Entitäten gibt, die in den Lauf der Dinge eingreifen, könne man der Welt das Potential einer besonderen Wirkung auf uns Menschen zugestehen, uns anzusprechen und in einen alltagsfernen “verzauberten” Zustand zu versetzen.

Dieses Potential spricht Costa auch dem Kosmos zu, und an dieser Stelle trafen sich mein Buch und seine philosophischen Überlegungen. Unser kosmologisches Weltbild beeinflusst schließlich unser Selbstverständnis, schon immer haben Menschen versucht, den Sternenhimmel zu irdischen Geschehnissen in Beziehung zu setzen und eine Verbindung herzustellen. Er ist Ausgangspunkt für unser menschliches Staunen über die eigene Existenz — und, aus Paolo Costas Perspektive, damit auch Ausgangspunkt für die Ausbildung von Weisheit. Natürlich, das gibt er zu, ist dies nicht  Teil des Anspruchs der modernen wissenschaftlichen Astrophysik, von der ein nüchterner, objektiver und evidenzentrierter Umgang mit dem Kosmos erwartet wird. Aber er stellt die Frage: Gibt es nicht doch eine enge Verbindung zwischen dem Wissen der modernen Astrophysik und solcher aus der Kontemplation in den Kosmos erlangten Weisheit? Um diese Frage etwas zu konkretisieren, formulierte er zwei Anforderungen, die er an Weisheit stellen würde. Erstens “the ability to do justice to the broadest possible array of viewpoints”, also eine möglichst große Offenheit verschiedensten Informationsquellen gegenüber, die unseren Sinn von Realität bestimmen. Und zweitens “the ability to tell an enlightening story about ourselve that turns this enlarged mindset into a better, more creative, or at least less destructive way of being in the world and of being with others.” Also die Fähigkeit, diese Offenheit in eine eigene Positionsbestimmung umzusetzen, aus der ein besserer Umgang mit der Umwelt resultiert.

Für mich waren diese philosophischen Überlegungen auf den ersten Blick recht fremd. Mit den von ihm zitierten Gedanken hatte ich in meiner philosophischen Ausbildung an einem der analytischen wissenschaftsnahen Philosophie verschriebenen Institut bislang eher wenig Kontakt. Aber die Verbindung leuchtete mir augenblicklich ein. Wenn man Astrophysik öffentlich kommuniziert, kann man sie kaum ignorieren. Denn sicherlich hat Paolo Costa recht: die primäre Begeisterung der meisten Menschen für kosmische Phänomene entspringt oft nicht so sehr dem nüchternen Interesse für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern vielmehr der erahnten Relevanz des Kosmos für unser menschliches Selbstverständnis. Das Schaudern angesichts der Größe und Andersartigkeit all dessen, das wir heute empirisch erforschen können, der Schrecken, wenn man merkt, wie sehr diese Erkenntnisse die Grenzen unserer Anschauung überschreiten und das Staunen über die wunderbare naturgesetzliche Ordnung, die sich noch in den rätselhaftesten Phänomenen offenbart — das sind die Emotionen, ohne die der Kosmos nicht zu kommunizieren ist und ohne die man die Verbindung zu uns Menschen kappt.

Zugleich liefert der Kosmos uns als Subjekt historisch wandelnder Weltbilder tatsächlich ein wunderbares Beispiel für die Vielfalt menschlicher Perspektiven. Und die kosmische Perspektive auf unseren kleinen Planeten sollte unser Verhältnis zu unserer Umwelt in der Tat verändern, bekannt ist das als “Overview-Effect”. Zudem stellt die Astrophysik als im Kern “nutzlose” Wissenschaft ganz direkt unseren Umgang mit der Welt infrage: Sie handelt schließlich von Dingen, die wir (bis auf wenige Ausnahmen) eben nicht so einfach dafür einsetzen können, einen materiellen Mehrwert in unserem “entzauberten” Alltag zu generieren – brauchen wir sie dann überhaupt? Meine Antwort auf Paolo Costas Frage war dann tatsächlich eine sehr zustimmende. Man kann die Astrophysik als rein objektive, nüchterne Wissensfabrik betreiben. Aber das ist nicht die natürliche Art, sich dieser Wissenschaft zu nähern, und beides, Wissen und Weisheit, kann spätestens dann nicht getrennt werden, wenn man über den innerfachlichen Zirkel hinausgehen will.

Costas Unterscheidung ist dabei in meinen Augen sehr hilfreich, denn die Scheu der meisten Kollegen ist sehr groß, mit einem solchen Zugeständnis bald von Esoterikern und Gläubigen vereinnahmt zu werden. Wenn Costa recht hat, muss das nicht sein. Wenn man eine Verzauberung in einem so grundlegenden Sinn versteht, wie er es tut — als demütiges Staunen über die Tatsache, dass wir Teil von etwas viel Größeren und kaum anschaulich zu Verstehenden sind —, dann ermöglicht man viel mehr Brücken aus unserer westlichen Kultur in andere Kulturen hinein, ohne die eigenen wissenschaftlichen Grundüberzeugungen aufgeben zu müssen. Beispielsweise in den Islam, wenn man das aktuelle Buch von Navid Kermani “Jeder soll von da, wo er steht, einen Schritt näherkommen” zur Grundlage nimmt, ein Buch, in dem zahlreiche Referenzen auf aktuelle (astro-)physikalische Ergebnisse zu finden sind.

Ich bin für den Titel meines Erstlings “Das Universum und ich” (zurecht) viel aufgezogen worden, und es stimmt, dass dieser Titel etwas größenwahnsinnig klingt. Überflüssig zu erwähnen, dass die Genese von Buchtiteln keine einfache ist. Aber es war mir in Trient eine große Freude, in Paolo Costa einen Leser getroffen zu haben, der die Tragweite dieses Titels vielleicht sogar noch besser verstanden hat als ich selbst —, mir ging es vor allem um unsere menschlichen Erkenntniswege für unsere Beschäftigung mit dem Kosmos. Die Besonderheit der Astrophysik geht darüber aber noch hinaus. Denn sie ist eine Wissenschaft, die ohne den engen existentiellen Bezug zu uns Menschen ihre besondere Bedeutung, ihren Zauber, verliert. Das “und ich” gehören tatsächlich immer dazu

Sibylle Anderl, Montagsblock /177

27.06.2022