FLXX 207 – Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Wer wird denn schon gleich in die Zukunft gehen?

In einem Land in der Mitte unserer Zeit herrscht Verwirrung. Die Regierung ist stark mit sich selbst beschäftigt, sodass viele notwendige Veränderungen auf der Strecke geblieben sind. Nun stehen Neuwahlen an. Minister und Abgeordnete stricken an ihrer Zukunft. Häufig mit sehr dünnen Fäden. Keiner will abgewickelt werden. »Wir sind die Richtigen. Ihr seid die Falschen.« Die Bürger wiederum glauben, dass die Folgen politischer Entscheidungen eher undurchsichtig sind und mehr oder weniger über sie hinwegrollen. Manche verhalten sich neutral zustimmend, einige stimmen trotz innerer Kündigung zu, andere denken quer und gehen in den Widerstand, und wieder andere verlassen das sinkende Schiff. Der größte Teil will Ruhe.

Bei den bevorstehenden Wahlen gibt es drei Kandidaten, die sich um das Amt des neuen Regierungschefs bewerben. Der erste, ein Mann um die 60, ist ein Mann der bewährten Ordnung. Seine strategische Ambition besteht darin, in kleinen Schritten das Land so zu verändern, dass alles beim Alten bleibt. Stark in der Gegenwart. Mit dem Leistungsversprechen: »Gemeinsam machen.« Eine große Sowohl-­als-­auch-­Kraft solle die Menschen zusammenführen, egal was komme. Sowohl das Alte bewahren, als auch das Neue aussprechen. Die zweite Bewerberin, eine Frau um die 40, ist eine Frau des unsicheren Aufbruchs. Ihre strategische Ambition besteht darin, in großen Schritten das Land so zu verändern, dass die Jungen bleiben. Stark in die Zukunft gerichtet. Mit dem Leistungsversprechen: »Bereit, weil ihr es seid.« Eine große Entweder­-oder-­Kraft solle die Menschen in die Zukunft führen, damit nicht komme, was sonst am Horizont drohe. »Ich will, dass Politik die notwendigen Entscheidungen trifft, diese Kraft endlich zu entfesseln.« Der dritte, ein Mann um die 63, ist ein Mann des bewährten Stillsitzens. Seine strategische Ambition besteht darin, im gemäßigten Tempo das Land so zu verändern, dass keiner aus dem Sessel fällt. Stark in der Vergangenheit. Mit dem Leistungsversprechen: »Für Dich.« Eine mittelstarke Entweder­-sowohl-­als-­auch-­Kraft solle die Menschen in den sicheren Hafen führen, in der keine Bedrohung mehr lauert. Sowohl das Alte aussprechen, als auch das Neue bewahren.

Betrachten wir die Wahlprogramme der drei Kandidaten etwas näher. Der Mann um die 60, der gerne ein weißes Hemd unter blauem Anzug trägt, kümmert sich primär um Ordnung und Sicherheit. Deshalb lässt er den Colt in der Sonne blitzen, was alle Bösen und Gangster in die Flucht schlägt. »Deutschland soll ein sicheres Land bleiben. Wir wollen mehr Überwachung. Mit Kameras. Verbrecher sollen mehr Angst haben. Davor, dass sie gefasst werden. Davor, dass sie bestraft werden.« »Das Leben soll gut bleiben.« Das Wasser ist sauber, es gibt schöne Häuser und es wachsen Obst und Gemüse. Das soll so bleiben. Ja, hier kann man gut leben, auch wenn man einmal nicht so kraftvoll in den Apfel beißen kann. »Wer nicht arbeiten kann, kriegt trotzdem Geld zum Leben.« Das hören die Bewohner des Landes gerne. Schöne starke Muskeln spannen sich an. Gleichzeitig den Bürgern aber nicht zu viel abverlangen. »Die Steuern sollen gleichbleiben. Und nicht höher werden.« Leitplanken aus flauschiger Merino­ und Alpakawolle begleiten den Bürger durch den Alltag. »Energie darf nicht teuer sein. Damit jeder Energie kaufen kann … Die Autofahrer entscheiden selbst: Wie schnell will ich fahren? … Die Mutter arbeitet den halben Tag. Oder der Vater arbeitet den halben Tag. Dafür gibt es Lohn. Vom Arbeit­ Geber. Für den anderen halben Tag gibt es Geld vom Staat.« Der große Appell lautet: Wer konform ist, wird belohnt. Drinnen ist es warm und kuschelig. Draußen lauern Gefahren. Deshalb macht der 60er-­Mann gerne mit der Wohlfühlbourgeoisie gemeinsame Sache. Mit dem richtigen Gott an der Seite: »Die meisten Leute in Deutschland sind Christen. Das heißt: Sie glauben an Gott und Jesus. Das finden wir gut. Das soll so bleiben.« Bleib doch noch ein bisschen, deutscher Michel, deutsche Michaela.

Da macht die Frau um 40 nicht mit. Sie kennt nur ein Ziel: »Das Land, die Menschen und auch die Wirtschaft sind bereit für Veränderung. Bereit, die Dinge anders zu denken, anders zu machen, sodass am Ende alle profitieren. Wir sind die Kraft, die dieses Land mutig, entschlossen und mit neuem Schwung aus der Krise in dieses entscheidende Jahrzehnt führt.« Respekt vor der Zukunft hat diese Frau nicht. Vielmehr macht sie klare Vorschläge, jene neu aus dem Boden zu stampfen. So soll etwa »ein Jahreswohlstandsbericht veröffentlicht werden. Dieser berücksichtige den Beitrag des Naturschutzes, einer gerechten Einkommensverteilung oder auch guter Bildung zum Wohlstand unserer Gesellschaft.« Die Frau um die 40 ist voller Vorfreude, tatkräftig anzupacken und alle einzuladen, mitzumachen. Jeder bekommt ein Zukunftsangebot, schneller, als er oder sie bei fünf auf den Bäumen sind. »Das Handwerk bietet in einer nachhaltigen Wirtschaft krisensichere Arbeitsplätze und trägt entscheidend zur ökologischen Wende bei. Es bietet auch im ländlichen Raum jungen Menschen eine Perspektive. Gerade für sie liegen in der ökologischen Transformation riesige Chancen – von der Gebäudesanierung bis zum Heizungstausch.«

Das Problem ist nur: Wer nicht mitmacht, bekommt das zu spüren. Er oder sie haben dann keine so richtige Zukunft mehr. Beispiel, des Deutschen Reiselust: »Ein ökologisch und sozial blinder Massentourismus mit klimaschädlichen Kreuzfahrtschiffen, endloser Müllproduktion und riesigem Ressourcenverbrauch hat keine Zukunft. Im Gegenteil, die Kreuzschifffahrt muss endlich ihren Beitrag leisten über neue Antriebe, die Verwendung von Landstrom und bessere Umweltstandards. In einem nachhaltigen Tourismus liegen hingegen riesige Chancen.« Muss, muss, Fahrradschlauch!

Dieser Regierungsstil bedarf einer disziplinierten Unterordnung der Bürger und Unternehmer im Sinne einer Innen­/Außen­-Codierung. Drinnen ist, wer sich normativ, moralisch-­ethisch und kommunikativ disziplinieren lässt. Kurz gesagt: wer sich richtig regieren lässt. Diese Denkfigur unterscheidet sich stark von einer liberalen Gouvernementalität, wie sie Michel Foucault beschrieben hat. »Die Regierung in ihrer neuen Ordnung ist im Grunde etwas, das sich nicht mehr auf die Untertanen und auf die diesen Untertanen unterstehenden Dinge auszuwirken hat«, sagt Foucault. Der Nutzwert des Regierens bestehe darin, als fürsorglicher Hirte den einzelnen Wirtschaftsbürgern zu dienen, damit diese in Ruhe und sicher ihren Geschäften nachgehen können. Hier zeigt sich das Dilemma der Frau um 40. Sie fordert einerseits den Gehorsam des Einzelnen mit Blick auf die Unbedingtheit der Zukunft, die alternativlos ist. Andererseits soll sich die Individualität der vielen stärker denn je ausprägen dürfen. Divers und vielfältig, das ganze Land. »Wir alle sind unterschiedlich, aber an Rechten und Würde gleich. Zusammenhalt in Vielfalt setzt voraus, respektiert, anerkannt und gehört zu werden, mitgestalten und teilhaben zu können, ohne Angst frei zu leben und sich als Gleichberechtigte zu begegnen, das Gemeinsame neben den Unterschieden zu sehen.«

Das Demokratieparadoxon des »Sich­-selbst-­zugleich-­Befehlens-­und-­Gehorchens«, wie es Niklas Luhmann genannt hat, ist die Falle, die sehnsüchtig wartet. Mit der Kernidee: Alle Menschen wollen das System imprägnieren. Das sieht die Kandidatin anders: »Macht ist in einer Demokratie nur geliehen. Diese Leihgabe verpflichtet zu sauberer Politik – zu einer Politik, die das Wohl der Bürger*innen über das persönliche Interesse stellt, die Rechenschaft ablegt und sich selbst Grenzen setzt. In diesem Sinne werden wir handeln.« Und wenn es sein muss, von top nach down. Kein Wunder, dass die Frau um 40 ihr Programm als das ausschließlich Beste beschreibt, was der einzelne voller Demut entgegennehmen darf. Bitte nichts tun, wir übernehmen die Zukunft! »Reaktive Politik hat die letzten Jahre über versucht, das Schlimmste zu verhindern. Aber es geht darum, das Beste zu ermöglichen. In kurzer Zeit eine klimaneutrale Gesellschaft zu werden, ist eine epochale Aufgabe mit inspirierender Kraft. Wir wollen einen Aufschwung schaffen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Einen Aufschwung, der das ganze gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt erfasst: Bildung und Kultur, Arbeit und Digitalisierung, Wissenschaft und Innovation.« Blick nach vorne, nicht zurück!

Der dritte Mann um die 63 hat ziemlich »Respekt vor unserer Zukunft« und möchte zunächst nur, dass wir einander besser verstehen. »Wir wollen, dass alle Menschen ihre Wünsche verwirklichen und ihre Ziele erreichen können. Am Anfang ihres Lebens, aber auch wenn sie bereits mitten im Leben stehen.« Familien müssten deshalb mehr Zeit füreinander haben, Erwerbs­ und Sorgearbeit müssten zwischen allen Geschlechtern gerechter aufgeteilt und Alleinerziehende besser unterstützt werden. Müsste, müsste, Fahrradklingel! Bimmel, bimmel, Wahlkampfstand! Etwas Wünschenswertes ausdrücken bedeutet im Kern, so müsste es immer sein. Der Vorteil des kleinen Wörtchens besteht darin, dass es nicht so arg verpflichtend ist. Schon der große österreichische Dichter Ernst Jandl kam zu der grundlegenden Erkenntnis: »Dies müsst ein wahrer Vogel sein, dem niemals fiel das Landen ein.« So fliegen die wahren Vögel zwar weiter heiter oben am Himmel herum, trällern ihre kleinen Luftschlösser in den Abendwind, haben allerdings kein so ganz konkretes Realisierungsinteresse für die da unten auf der Erde. Nimmt man dem Wörtchen »müssten« allerdings das harte »t«, kommen wir schnell zum dritthäufigsten Wort im Wahlprogramm des dritten Mannes: »müssen«. »Wir müssen jetzt die richtigen Entscheidun­gen treffen … Gesundheit ist keine Ware, deshalb müssen in unserem Gesundheitssystem die Bürger*innen im Mittelpunkt stehen … Wir müssen besser darin werden, aus Ideen auch Produkte und Dienstleistungen zu machen und Start­ups zu fördern.«

Fassen wir diesen kleinen Ausschnitt zusammen: »Wir müssen Entscheidungen treffen … Wir müssen in den Mittelpunkt stellen … Wir müssen besser werden.« Klingt wie ein 63-­jähriger CEO eines DAX-­Konzerns, der die Mitarbeiter darauf vorbereiten will, dass in Kürze viele im Namen des Shareholder­-Value rausgeworfen werden. Meistens lenkt man damit aber nur von der eigenen Verstricktheit ab, dass man nämlich selbst die Ursache des Problems ist. Die Wähler riechen natürlich den Braten und lehnen die Entweder­-sowohl­-als­-auch-­Kraft des Kandidaten überwiegend ab.

Auch, weil die Bewohner des Landes ganz andere Sorgen haben: Zwei Naturkatastrophen zeigen ihnen, dass sowohl Gegenwart als auch Zu­kunft auf dem Spiel stehen, wenn es so weitergeht wie bisher. Katastrophe 1 ist ein eher mittelklassiges Virus, das jedoch ein globales Pandemie­-Monopoly in Gang setzen kann. Seine strategische Ambition besteht darin, von Mensch zu Mensch zu springen und deren Widerstandskraft zu überprüfen. Alle Kraft für den einen Augenblick. Mit dem Leistungsversprechen: »Gemeinsam bereit für Dich.« Eine große Alles­-oder­-nichts-­Kraft führt die Menschen an die Klippe des Todes. Katastrophe 2 ist eine Hochwasserflut nach Dauerregen, der aus der von Menschen verursachten Klimaveränderung herrührt. Ihre strategische Ambition besteht darin, von Haus zu Haus zu rauschen und selbst darin Wohnende wegzureißen, weil im Weg stehend. Nichts und niemand kann sich widersetzen. Mit dem Leistungsversprechen: »Gemeinsam bereit nützt Euch gar nichts mehr.« Wütende Wasserkraft bricht jeden Stein und begräbt alles Menschliche unter sich.

Nehmen wir fiktiv an, wer die Wahl gewinnen könnte. Kandidat 1 harmoniert am besten mit Katastrophe 1. Wenn das Virus besiegt ist, können wir wieder zur Normalität der bewährten Ordnung zurückkehren. Die Metapher ist der Anker in einer aus den Fugen geratenen Welt, an dem sich jeder festhalten kann. Nicht ganz so gut klappt das zwischen Kandidat 1 und Katastrophe 2. Der Alles­-oder-­nichts-­Kraft kann er wenig entgegensetzen. Es fehlt ihm der große, mutige Gegenentwurf. Hier zeigt sich Kandidatin 2 wesentlich besser vorbereitet. Sie ist bereit, von der dunklen Gegenwart in die helle Zukunft zu navigieren. Ihre Metapher ist die Arche, die in tosendem Wasser alle Stürme übersteht und die Lebewesen einander wieder näherbringt. Mit Katastrophe 1 kann Kan­didatin 2 wiederum nicht so perfekt anbandeln, denn das Virus entzieht sich geschickt der Drohkulisse des Zukünftigen und beharrt auf der Inzidenzmathematik des Augenblicks. Niemand ist so richtig für die Virusvarianz bereit und verdreht die Augen, wenn er oder sie an die Postpandemie denkt. Kandidat 3 hätte jetzt alle Chancen, doch diese zerrinnen ihm zwischen den Fingern. Sein Leistungsversprechen wirkt überzogen. Mit strikter Allmachtsgaukelei gibt er vor, die Katastrophen lindern und aushalten zu können. Keine Bedrohung ist ihm zu groß. Seine Tiermetapher ist der Adler, der hoch oben über der Menschheit wacht und im Augenblick der Gefahr seine schützenden Flügel ausbreitet. Das aber nimmt ihm niemand so richtig ab, sodass der Adler irgendwann abdrehen muss, weil er sonst genauso in den Katastrophen abstürzt und unterzugehen droht.

Ups, schon flattert die erste Hochrechnung herein: Die Wahl gewinnt Kandidat 1, der mit Kandidat 3 koalieren wird. »Gemeinsam für Dich etwas richtig machen« ist die semantisch wirksamste Beruhigungspille im Katastrophenwirrwarr. Der Anker signalisiert das starke Fundament, der Adler hat darauf ein wachsames Auge. Kandidatin 2 kann unterdessen nur in ihrer Arche verharren und auf eine goldene Zukunft nach den Katastrophen verweisen. Das finden zwar viele Mitreisende plausibel, aber nicht genügend viele. In der Arche wird deshalb heftig diskutiert, warum die Menschen wieder so richtig falsch gewählt haben. Der Anker nimmt zwischenzeitlich auf der Regierungsbank Platz, der Bundesadler wacht im Hintergrund.

Ach, fast vergessen: Ein vierter Kandidat scharwenzelt vor den Kameras herum. Es ist ein offenbar grundgütiger liberaler 42­-Jähriger, der alles sagt, was ihn der 1+3­Koalition näherbringen könnte. Tiermetaphorisch ist er das kleine Chamäleon, das bei Gefahr rasch seine Hautfarbe ändert. Ein Mensch, der seine Überzeugung leicht verwässert, wenn die Regierungsbank in Sichtweite gerät. Vor allem, wenn er gleichzeitig die Möhre des Mitregierens hingehalten bekommt. »Auf uns ist Verlass … Für uns zählen Inhalte.« »Und wer klare Verhältnisse in Deutschland wolle, wer wolle, dass das Land weiter aus der Mitte regiert werde, der dürfe« die Kandidaten 1 und 3 nicht im Stich lassen. Die FLXX­-Prognose zur Wahl: Die Kandidaten 1 + 3 + 4 sorgen gelassen weiter für Ruhe im Land.

Der Aufbruch wird verschoben.