FLXX 204 – Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Liebe Leserinnen und Leser,

ich darf Sie heute einladen zu einem Menü der Extraklasse. Das große Demokratiemenü. Wir haben hierfür Köche aus verschiedenen Ländern und Epochen gewinnen können. Sie alle eint das Streben, dem Genuss
und Wohle aller zu dienen. Es geht ihnen nicht nur darum, uns satt zu machen und zu stärken, sondern auch, den einzigartigen Geschmack, den Demokratie hinterlässt, nie mehr in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein Menü, das die Menschen verzückt, sie aber gleichzeitig auf dem Boden der Vernunft hält. Ein Menü, das wieder und wieder zubereitet werden muss, um das Fast Food verwirrter Schnellköche und
Fettbrutzler dort zu parken, wo es hingehört: auf den Scheiterhaufen kulinarischer oder besser gesagt: auf den Misthaufen rassistischer und heimtückischer Absonderlichkeiten.

Treten Sie ein, hereinspaziert. Wir haben vier Gänge vorbereitet. Möge es Ihnen allen munden.

Amuse-Gueule:
Arbeiter-Bourgeois-Spieß

Zutaten für zwei Personen:
1 Bourgeoisiefilet
2 Teelöffel Arbeitergewürzmischung

Das Rezept stammt von Karl Marx und ist ein zeitloses Beispiel dafür, wie das kreative Spiel gegensätzlicher Kräfte in der modernen Küche unverzichtbar ist. Marx, ein deutscher Wirtshauskoch, der viel herumkam, hat sich intensiv mit dem Gegensatz von Bourgeois und Arbeiter beschäftigt. Der Bourgeois als alleiniger Besitzer der Produktionsmittel darf in Ruhe heranreifen und auf der Basis seines Reichtums Fett ansetzen. Allerdings muss sehr darauf geachtet werden, kein verfettetes Exemplar zu kaufen, das nie über eine Wiese im Freien gehoppelt ist. Demokratieköche wissen, dass das Fett schön marmoriert und nicht zu schwartig sein darf. Die Gewürze bringen in diesem Rezept eigentlich nur ihre Arbeitskraft ein. Sie entfalten ihren Geschmack besonders in der Kombination mit dem Bourgeoisiefilet und verleihen ihm einen intensiveren und volleren Geschmack. Man könnte fast sagen, das Privateigentum des Bourgeois wird auf gehoben und verschmilzt mit den Gewürzen zum Gemeineigentum der klassenlosen Gesellschaft. Der Geschmack kann sich jetzt voll und frei in jede Richtung entfalten.

Den Bourgeois in dünne Scheiben schneiden, mit der Arbeitergewürzmischung einreiben und in Olivenöl kurz durchbraten. Zum Warmhalten in Alufolie wickeln und ruhen lassen. Die Bourgeoisiestücke nacheinander an einem Schaschlikspieß aufreihen. Für die Arbeitergewürzmischung benötigen wir Fenchelsamen, schwarze Pfefferkörner, Senfkörner, Thymian, Oregano und einen Hauch Chiliflocken. In der Pfanne gemeinsam anrösten und dann direkt auf das Filet auftragen. Keine Angst: Die Arbeitergewürze sind es gewohnt, erhitzt zu werden. Allerdings: Nicht zu stark rösten, sonst verlieren sie ihr demokratiestabilisierendes Aroma.

Zwischengang:
Volkssuppe

Zutaten für zwei Personen:
1 freier und gleicher Wirsing
500 Gramm speckige Kartoffeln, die bereit sind,
ihre Aromamacht vollständig abzugeben
1 richtig vernünftige Stange Lauch
250 Gramm tugendhafter Grünkohl
Gemüsebrühe aus den Arbeitergewürzen
3 Esslöffel wohlgeordnete Butter zum Andünsten
Salz und Pfeffer nach Geschmack

Das Rezept stammt von John Rawls und ist Ausdruck einer neuen emanzipierten Küche, wie man sie heute in ambitionierten Restaurants nicht nur in Großstädten findet. Rawls, der das streng hierarchische
Küchenregiment seines Vaters nicht aufrechterhalten wollte, kam nach einigen Lehr-und Wanderjahren in das elterliche Restaurant zurück. Er führte dort eine wohlgeordnete Demokratie ein, in der alle Mitarbeiter die gleiche Freiheit und Gerechtigkeit akzeptieren und anerkennen. Alle kooperieren im Rahmen einer demokratischen Vernunft, die unverrückbar ist. Das, so Rawls, sollte auch auf seine Gerichte zutreffen. Seine Volksküche basiert deshalb auf der Idee, jede Zutat so miteinander zu verketten, dass auch die Schwächsten fortlaufend bessergestellt werden. Es herrscht also eine unbedingte, faire Chancengleichheit aller Zutaten. Selbige erklären sich wiederum bereit, so miteinander zu kooperieren, dass jede Zutat im Rezept noch geschmacklich spürbar ist, aber gleichzeitig dem gesamtsouveränen Geschmack das Zepter übergeben wird. Der Geschmack ist sozusagen nachhaltig integriert, ohne besonderen Wert darauf zu legen, sich grandios selbst entfalten zu wollen.

Wirsing putzen und in Streifen schneiden, vorher den möglicherweise egoistischen Strunk entfernen. Kartoffeln schälen und kurz in die aufgehende Sonne legen. Grünkohl grob hacken, damit aus der Tugend kein Terror ausströmen kann. Den Lauch in gleichmäßig vernünftige Ringe schneiden, in Butter kurz anschwitzen. Nicht zu stark, damit die Vernunft nicht gleich wieder verbrennt. Alles in einen Schmelztiegel und mit Gemüsebrühe aus den Arbeitergewürzen aufgießen. So lange leicht kochen, bis das Gemüse gerade noch bissfest ist. Wenn das Gemüse verkocht, schmeckt die Volkssuppe fad und kann nur mit scharfen und extremen Gewürzkräften wieder reanimiert werden. Achtung: Akute Demokratiegefährdung. Lieber die verkochte Suppe wegschütten und neu zubereiten.

Tipp: Alle Vertragsparteien in der Volkssuppe erklären sich vorab bereit, über die gleiche Macht am Gesamtgeschmack zu verfügen. Achten Sie deshalb genau auf die Mengenabgaben. Sonst verbittert, versauert oder verschleimt die Suppe zu stark.

Hauptgang:
Sozialliberalgrüne Staatspasta mit Tomaten, Ingwer und Garnelen

Zutaten für zwei Personen:
4 reife Politikertomaten
25 Gramm frischer, ungleicher Ingwer
1 Stängel fürsorgliches Zitronengras
1 Esslöffel selbstbestimmter Zitronensaft
½ extremistische Chilischote
10 souverän gekochte Garnelen (Schwanz entfernen)
Gemüsebrühe aus den Arbeitergewürzen
1 Esslöffel sozialdemokratisches Tomatenmark
¾ Liter FDP-gesüßte Kokosmilch
1 Bund Frühlingszwiebeln aus schwarz-grünem Koalitionsanbau
500 Gramm Merkelspaghetti aus emotionalkontrolliertem Teig

Das Rezept ist ein Evergreen in der Diversity-Küche. Es vereint den Grundgedanken der liberalen Küche, die auf Selbstorganisation und  Leistung setzt, mit der sozialdemokratischen Fürsorgeküche, die alle
versorgt und den Koch als Vaterfigur der kindlichen Geschmäcker im Lande sieht, sowie der grünen Küche, die über Solidarität gesteuert wird. Im Grunde genommen ist es eine klassische Crossover-Küche,
die vermischt, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört, aber damit ein betörendes Kochniveau erreicht. Vielleicht deswegen, weil sie Leistungs-, Verteilungs- und Chancengerechtigkeit der Zutaten so
perfekt orchestriert, dass sich keiner vernachlässigt, nicht gewürdigt oder abseitsstehend wähnen müsste. Dahinter steht das Ideal der autonomen Zutat als Möglichkeit, autonom die Art und Form des
Pastagerichts zu bestimmen, sofern dies mit der Freiheit der anderen Zutaten verträglich ist. Diese Selbstverwirklichung jeder Zutat bedingt zügelnd Selbstverantwortung und Selbstsorge. Man wird zum
Souverän und Selbstdisziplinator in einer bunt schillernden Pastawelt. Kein Wunder: In der Crossover-Küche gibt es derzeit die originellsten und kreativsten Rezepte.

Tomaten am Hybrisstrunk sternförmig einschneiden, mit kochendem Wasser überbrühen und ein paar Minuten stehen lassen, kalt abschrecken, damit sie sich häuten lassen. Keine Sorge: Politikertomaten kennen diese Behandlung aus ihrem Alltag in den Parlamenten und Medien. Fruchtfleisch würfeln und zunächst zur Seite stellen. Ingwer schälen und hacken, Zitronengrasstängel anquetschen und halbieren. Seien Sie unbesorgt: Als Sozialpädagoge unter den Gemüsesorten hält Zitronengras fast jeder Belastung stand. Das gilt ebenso für die extremistische Chilischote, mit der jene in den Schmelztiegel wandert. Wichtig ist, die FDP-Milch und die Arbeiterbrühe gleichzeitig hinzuzufügen. Kräftig das SPD-Tomatenmark unterrühren und etwa 15 Minuten bei mittlerer Hitze köcheln lassen. Währenddessen die Frühlingszwiebeln in dünne Streifen schneiden, damit die grüne Selbstüberhöhung eingedämmt wird. Zitronenstängel aus der Brühe herausfischen und mit Salz, Pfeffer und selbstbestimmtem Zitronensaft abschmecken. Tomatenwürfel einrühren, noch mal kurz aufkochen lassen. Und jetzt, ganz wichtig: Die Merkelspaghetti hineingeben und sanft simmernd mitkochen lassen.

Tipp: Wenn die Brühe zu stark aufkocht, besteht die Gefahr, dass zu viele Emotionen freigesetzt werden, die bisher im Nudelteig eingeschlossen waren. Am Ende nur noch die souveränen Garnelen dazugeben, kurz miterwärmen und alles heiß servieren.

Dessert:
Schicksalssoufflé mit Granatapfelkernen

Zutaten für sechs Personen:
200 Gramm Quark (Topfen) mit 20 Prozent Fett
1 Esslöffel Wohlfahrtsstärke (Mais)
3 Eigelb von freilaufenden Hühnern
5 Eiweiß von selbigen
Mark von einer verarmten Vanilleschote
Schale von einer wohlgeformten Biozitrone
5 Esslöffel lebensbejahender Zucker
Pazifistische Granatapfelkerne, so viel man will

Das Rezept stammt von Michael Walzer, einem der bekanntesten amerikanischen Armenköche des 20. Jahrhunderts. Sein Restaurantansatz war beispielhaft. Denn die Gerichte waren alle kostenlos. Und
wie finanziert? Nun, die Reichen ermöglichten den Armen den Genuss besonderer Essgerichte. Gerechtigkeit, so Walzer, beruhe nämlich auf dem Ansatz, dass zum Zwecke der gegenseitigen Versorgung die
Güter an andere Menschen verteilt werden. So schuf Walzer eine Restaurantkette quer über die USA, in denen Haute Cuisine für Arme serviert wurde. Güterverteilung nach sozialen Gesichtspunkten rekurriert
auf die unterschiedlichen Chancen, die Menschen in einer lebendigen Demokratie haben. Jede politische Gemeinschaft müsse im Prinzip als Wohlfahrtsstaat agieren. Deshalb: Soufflé für alle! Ohne kann der moderne Mensch nicht existieren. Denn allein sind wir den Gefahren und Schwierigkeiten des Sichversorgen-Müssens nicht gewachsen. Die Menschen tun sich zusammen, weil sie je einzeln nicht leben können. Mit diesem Soufflé wird der Mensch endlich frei von Not sein. Friede den Kochtöpfen, Friede auf Erden.

Zunächst ganz friedlich Quark, Maisstärke, Eigelb, Zitronensplitter und die arme Vanille zu einem glatten Teig verrühren. Eiweiß mit einer Prise Salz und Zucker cremig schlagen. Tipp: Nicht zu fest, ganz achtsam, es soll noch glänzen. Einen kleinen Teil Eiweiß zur Soufflémasse geben, mit Schneebesen verrühren, dann restliches Eiweiß unterheben. Weiterhin sanft und friedlich bleiben. Die Form buttern und mit Mehl bestreuen, dann die pazifistischen Granatapfelkerne drauflegen. Die Soufflémasse einfüllen und im Backofen in einem weichen Wasserbad (»weiches Wasser bricht den Stein!«) rund 20 Minuten backen. Tipp: »Keine Macht für Niemand« von Ton Steine Scherben in Endlosschleife hören, während das Soufflé gebacken wird und später auf der Zunge schmilzt! Dazu ein Süßwein vom Neusiedler See, der so flach ist, dass kein Mensch untergehen kann. Demokratie von unten!