Montagsblock /352

Ich befinde mich gerade in einem Dilemma. Es ist Sonntag, der 7. Dezember 2025, der zweite Advent, nicht mehr ganz früher Nachmittag. Ich habe bis jetzt gearbeitet – die letzten Fahnenkorrekturen eines Buchmanuskripts noch einmal auf bugs durchgesehen, anlässlich eines kurzen Spaziergangs eine Kerze in der Kirche wegen eines Todesfalls aufgestellt (frei nach Nils Bohr glaube ich auch daran, dass das hilft, auch wenn man nicht daran glaubt), drei Besprechungen, die ich als Vizepräsident meiner Universität in den nächsten beiden Tagen zu bestreiten habe, vorbereitet, überhaupt die Termine der Woche arrangiert, einer Kollegin geschrieben, ob der geplante Termin am Donnerstag so stattfindet, wie er geplant war, mich mit der Registrierung als Autor bei einer amerikanischen medizinsoziologischen Zeitschrift im Reiche Elsevier herumgeschlagen, auf der Homepage des Münchner Kreisverwaltungsreferates herumgesucht, um einen Termin für die Abholung meines neuen Reisepasses zu buchen (die letzteren beiden Tätigkeiten scheiterten an technischen Problemen), und nicht zuletzt habe ich den Sattel auf meinem Trainingsfahrrad neu justiert und mich über mein insuffizientes Werkzeug (einschließlich meiner Finger) geärgert – was man sonntags eben so macht, wenn man sonst nichts vorhat. Allerdings habe ich nachher etwas vor – ich gehe mit meinem Sohn ins Kino und vorher etwas mit ihm essen. Die Zeit ist also begrenzt.

Bei all den Tätigkeiten, deshalb habe ich sie hier aufgezählt, lief im Hintergrund mit, dass ich, bevor ich zum Essen und ins Kino gehe, noch einen Montagsblock schreiben muss. Ich wusste noch nicht, worüber. Und ich weiß es immer noch nicht. Kennen Sie das auch? Das Bewusstsein wird durch alltägliche Tätigkeiten in Anspruch genommen, die Tätigkeiten haben unterschiedliche Intensitätsgrade im Hinblick auf die bewusste Aufmerksamkeit und erlauben mehr oder weniger andere aktuelle Aufmerksamkeitsfoki als nur die unmittelbar tätigkeitsbezogenen – man kann dann an jemanden denken oder an etwas oder ganz anderes verhandeln, als gerade unmittelbar nötig ist.

Und dazu gehört, eigentlich seit gestern schon, die Frage nach dem Montagsblock, der geschrieben werden muss. Der aber kann erst geschrieben werden, wenn ich weiß, worüber. Erst dann kann ich mir Gedanken machen, wie er zu schreiben wäre, was dafür recherchiert oder gedacht werden muss oder wie so ein Text zu arrangieren wäre. Nur: Damit man mit dieser Denkarbeit beginnen kann, muss etwas anderes gedacht worden sein: das Thema. Man kann sich Gedanken vornehmen, wenn man einen Plan hat, einen Pfad, wenn sich die Dinge gewissermaßen ordnen müssen. Aber der Anfang, der kann nicht geplant werden, der muss immer schon begonnen haben.

Etwas weniger geschwollen ausgedrückt geht es um einen Einfall, den man sich nicht vornehmen kann, sondern der einem einfällt. Man ist nicht Subjekt eines Einfalls: also ich falle nicht selbst ein, sondern mir fällt etwas ein. Also man ist nicht Subjekt, sondern Dativobjekt eines Einfalls – was auch darauf verweist, dass man es schwer erzwingen kann. Es muss mir (Dativ!) einfallen, damit ich einen Einfall haben kann – und dann kann ich mich als Subjekt auspielen und die Sache in die Hand nehmen.

Das geht uns eigentlich immer so – und beim Montagsblock am entsprechenden Blockwochenende stets: Denn das, was geschrieben werden soll, muss sich ereignen, weil es ja keine logische Antezedenzbedingung gibt, die den Gedanken denkt. Ich muss also darauf hoffen, dass mir etwas einfällt. Das verweist übrigens darauf, wo die Gedanken denn eigentlich herkommen. Aus meinem Kopf? Aus meiner Psyche?

Es liegt nahe, diese Fragen zu bejahen – aber erinnert man sich an die philosophische Psychologismuskritik, die daran zweifelte, dass logische, ethische oder epistemologische Formen allein mit psychischen Prozessen erklärt werden können, wird man zögern. Es waren vor allem Gottlob Frege und Edmund Husserl, die sich vor allem für den Ursprung logischer Schlüsse interessiert haben, die zu denken nicht mit dem Psychischen alleine erklärt werden kann. Ich will das hier nicht vertiefen, aber für einen Soziologen ist das plausibel: Dass das, was wir denken und von dem wir sagen, wir dächten es, stets eine für die konkrete Praxis handhabbar gemachte Zurechnung sei. Ihr Ursprung liegt außerhalb der Psyche (die auch gar nicht direkt beobachtbar ist), etwa in der Welt, in der Gesellschaft, in den kulturellen Formen, mit denen das Denken operiert. Ein reines Denken ohne solche Bezüge gibt es nicht.

Deshalb ist es nicht so naiv, an jedem Blockwochenende darauf zu hoffen, dass ein Thema mich findet – das Material stammt stets aus all dem, was ich in der Welt erlebt habe, wovon ich gehört habe, was in der Aufmerksamkeitsökonomie gerade hoch im Kurs steht oder was – ein wenig psychischen Eigenbeitrag gibt es schon – durch meine Vorstellungskraft rekombiniert habe und das zu einem Thema kondensiert werden kann. So sind es oft Stichworte, zufällig gelesene oder gehörte Sentenzen, verdichtete thematische Selektivitäten und Interessen, die in Kombination zu mir verfügbaren Bedeutungsformen zu einem Thema führen, das mir einfällt und aus dem man dann etwas machen kann. So war es bis dato immer. Oft wars auch so, dass ich die ganze Woche wusste, worüber ich was schreiben will, und kurz vor dem Schreiben fiel mir etwas anderes ein.

Es ist wie bei engagiertem Sprechen. Da werden wir auch manchmal, zumindest mir geht es so, von dem überrascht, was man selbst so sagen kann – und so sehr man sich über die eigene Kreativität freuen kann, dass einem die richtige oder gerade die kunstvoll abweichende Formulierung eingefallen ist, so sehr muss man konzedieren, dass es meistens die Formulierungen sind, die uns finden: aus dem ganzen Fundus des Sagbaren, wenn man es mit Fregeschen Begriffen sagen will: aus dem Fundus wahrheitsförmiger, logischer und damit denkbarer Sätze. Frege meinte das etwas anders, aber so ähnlich könnte man es rekonstruieren. All das genaue Schreiben, Beschreiben, Reden und Tun enthält viel mehr, das wir nicht selbst kontrollieren. Deshalb muss uns (in unserer Dativobjektposition) etwas einfallen, damit wir Sätze mit uns selbst als Subjekt sagen oder schreiben können.

Man kann aber durchaus auch einen Montagsblock schreiben, wenn einem nichts einfällt – wie in diesem Fall, der sich dann aber paradoxerweise so darstellt, dass der Einfall darin besteht, dass einem nichts einfällt – um darüber zu schreiben. So – ich fahre jetzt mit der U-Bahn in die Stadt, die Zeit ist um.

Armin Nassehi, Montagsblock /352

08. Dezember 2025