Der Totensonntag als „stiller Feiertag“ ist mir in diesem Jahr zum ersten Mal aufgefallen. Ich wohne neuerdings in der Nachbarschaft eines Weihnachtsmarktes und habe deshalb wohl neulich im Fernsehen mit anderer Aufmerksamkeit die für mich neue Debatte verfolgt, ob Weihnachtsmärkte vor dem Totensonntag öffnen sollten. Ein evangelischer Bischof argumentierte im Beitrag vehement dagegen: Der November sei der Monat der Trauer und Besinnung und müsse vor weltlichem Weihnachtskommerz beschützt werden. Das Gegenargument wurde in dem Beitrag von den Budenbesitzern geliefert: Unsere Zeit ist so krisengeschüttelt und düster, da brauchen wir Ablenkung und schöne Dinge.
Für mich war der November schon immer ein Monat, der eng mit dem Tod verbunden war. Mit meiner Mutter bin ich als Kind immer am 2. November zu Allerseelen auf den Friedhof gegangen – die Katholiken sind früher dran und damit ziemlich weihnachtsmarktsicher. Mangels verstorbener Verwandten auf heimischen Friedhöfen suchten wir uns dann ein vernachlässigt scheinendes Grab, stellten eine Kerze darauf und überlegten, was für ein Mensch das wohl war, der hier die letzte Ruhe gefunden hatte. Oft waren es kalte, dunkle und neblige Tage, nicht selten standen wir zwischen den Gräbern im Nieselregen. Das Ritual mochte ich trotzdem. Meinen Eltern war es immer wichtig, dem Tod einen Platz im Leben zu geben, und für mich fühlte sich das richtig an.
In diesem November ist mein Vater verstorben und ich denke auch unabhängig von den Feiertagen viel über Sterben und Abschiednehmen nach. Auch, weil viele Menschen mit mir ihre Geschichten teilen und erzählen, wie sie selbst geliebte Angehörige verloren haben. Ganz überraschend und schnell nach der Diagnose einer aggressiven Krebsdiagnose. Still und fast heimlich, um die Familie nicht unnötig zu belasten. Oder auch lange vor dem eigentlichen Tod durch das langsame Verschwinden in einer Demenz. Der Tod als ungerechtes Unglück, oder als lang ersehnte Erlösung, als etwas, das der Sterbende möglichst unbemerkt mit sich selbst ausmachen will, oder als etwas, das manchmal schon im Leben eintritt, weil der geliebte Mensch auch lebend einfach nicht mehr existiert.
Zu sterben ist etwas, das man nicht üben oder lernen kann. Im besten Fall findet man wohl gemeinsam mit seinen Nächsten einen Weg, sich diesem weder emotional noch theoretisch wirklich fassbaren Ereignis zu nähern und es zu erreichen. Mein Vater jedenfalls hatte versucht, sein Umfeld teilhaben zu lassen. Kaum ein Gespräch seit seiner Krebsdiagnose vor sieben Jahren, und sei es mit dem Bankangestellten oder der Café-Bekanntschaft, ohne den Hinweis auf seine sehr absehbare Endlichkeit. Es war interessant zu sehen, wie schlecht wir kommunikativ auf solch einen offenen Umgang mit dem Tod eingestellt sind. Viele waren irritiert, einige wurden mit der Zeit fast aggressiv: Jetzt redet er schon so lang vom Tod, aber er lebt doch noch! Will er überhaupt leben? Warum beschäftigt er sich so sehr mit dem Ende, wenn man doch ohnehin nicht genau vorhersagen kann, wann es kommt?
Ich habe die Offenheit als großes Glück empfunden, weil wir so gemeinsam Abschied nehmen konnten. Auch wenn es mich selbst manchmal sehr irritierte. Im Fall meines Vaters war es kein binärer Prozess zwischen Leben und Tod, es gab über die Jahre immer wieder viele letzte Male. Letzte Reisen, letzte Ausflüge, letzte Restaurantbesuche, letzte Zeichnungen. Man weiß das erst hinterher, aber das geteilte Erlebnis bleibt. Für mich, und ich hoffe auch für ihn, war es ein guter und langer Abschied mit vielen Gesprächen, auch wenn das kein bisschen vom Schmerz nimmt, wenn der Abschied dann final ist.
Ich habe mit Menschen gesprochen, für die der Tod eines nahen Menschen plötzlich kam oder sich zumindest plötzlich anfühlte. Die eigentlich noch einen Besuch geplant hatten oder gerne ein Gespräch geführt hätten und sich nun damit quälen, dass sie diese Möglichkeit verpasst haben. Jeder weiß, wie viel man aus dem Tod für das Leben lernen sollte. Für die eigenen Prioritäten, für die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auch in den Momenten, in denen man noch gar nicht an den Tod denken will. Das anzuwenden auf unseren stressigen und krisengeschüttelten Alltag gelingt trotzdem viel zu selten. Vielleicht kann der November tatsächlich eine Zeit sein, sich daran zu erinnern – zumindest für mich wäre es das wert, die ohnehin schon viel zu lange hektische Vorweihnachtszeit in ihrem adventlich definierten Zeitrahmen zu belassen.
Sibylle Anderl, Montagsblock /350
24. November 2025