Der bekannte Managementdenker Hermann Simon hat die folgende spieltheoretische Situation beschrieben. Es geht um den richtigen Standort in einer Wettbewerbssituation. Man solle sich, so Simon, einen Strand von einem Kilometer Länge vorstellen, auf dem die Badegäste gleich verteilt sind. Nun kommen zwei Eisverkäufer mit identischem Sortiment ins Spiel. Wo werden sie sich aufstellen, um die besten Geschäfte zu tätigen? „Bei Nutzenmaximierung für die Kunden würde einer bei 250 Metern, der andere bei 750 Metern stehen.“ Warum? Die Kunden müssten im Schnitt 125 Meter und höchstens 250 Meter zurücklegen. Die Folge: Absatz und Umsatz wären maximal. Jeder hätte 50 Prozent Marktanteil. Das ist die graue Theorie, sagt Simon. Denn wahrscheinlich stünden die beiden Eisverkäufer eher in der Mitte, also bei 500 Metern. Die 750/250-Aufstellung würde aufgegeben werden. Warum? Nun, sobald sich einer in Richtung Mitte bewegt, glaubt er, sein Marktanteil würde steigen, weil er mehr Kunden im Blick hat. Also werden dies beide so lange tun, bis sie sich bei 500 Metern treffen. Das Problem: Die Kunden müssen jetzt einen längeren Weg zurücklegen – im Schnitt 250 Meter und im Maximum 500 Meter. Womit nach Nutzenabwägung die Nachfrage der Kunden eher sinken würde. Ergebnis: Die beiden Eisverkäufer treffen sich in der Mitte, obwohl dort die Kundennachfrage für den einzelnen Verkäufer niedriger sein wird.
Was wir daraus lernen? In einer Wettbewerbssituation treffen sich Anbieter oft dort, wo die Geschäfte nicht am aussichtsreichsten sind. Dort, wo die verheißungsvolle Annahme in der Realität schmilzt. Als Programmentwickler eines Wirtschaftsbuchverlages kann ich ein Lied davon singen. Gestatten Sie mir einen speziellen Blick. Wir als Murmann Verlag erhalten derzeit zirka zehn unverlangt eingesandte Manuskriptvorschläge pro Woche (500 im Jahr). Neuerdings sind diese überwiegend von ChatGPT et.al. formuliert. Und große Überraschung: Sie handeln fast alle von den kommenden Profiten mit der richtigen KI-Navigation. Die richtigen Prompts stellen und so weiter. Goldgräberstimmung. Alle rennen in eine Richtung und versammeln sich in der 500-Zone. Klondike-Feeling. Obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass dort durch zu viel gleiches Angebot die Nachfrage eher sinken wird. Wenn ich dann in Gesprächen darauf hinweise, dass man sich als Autor und Autorin eher in der 750/250-Zone als Unikat aufhalten sollte, ernte ich meist großes Erstaunen. Man kann sich nicht vorstellen, dass noch andere auf derselben thematischen Ukelei wie man selbst zu spielen gedenkt.
In meinem BEEP-Buch* habe ich deshalb am Ende den Rat für Autoren ausgesprochen: „Entdeckt endlich euere Falten im Gesicht!“ Was ich damit zum Ausdruck bringen wollte, ist die Wiederentdeckung des Selber- oder des persönlichen Möglichkeitsdenkens. Eigene geistige Kräfte wecken. Ausprobieren. Dem Zufall eine Bühne bieten. „Lernt das Unikat in euch kennen. Bleibt autonom und sagt Nein ohne Skrupel.“ Werdet Spurensucher, Fährtenleser, Sinnsucher, Vielfaltsentwickler, Originalitätsverbinder. Werdet in einem Wort „Alles-kann-auch-anders-sein-Forscher“. Wer jedoch immer nur den Leser oder die Leserin im Euroblick hat, im Social Media-Jazz eine Hauptrolle spielen will und intern von Marketingschreiern umlagert wird, schreibt, so meine Erfahrung, eher die lauen Lüftchenratgeber, die derzeit die Bestsellerlisten füllen. Diät, Fitness, Geldanlage, langes Leben. Inklusive windige Influencer, die dahinter ihre wohlfeilen Empfehlungen aussprechen. Obwohl, Spoiler: Deren Handwerk wird die KI auch noch legen.
Womit ich in meiner kleinen Wirtschaftsbuchwelt angekommen bin. Und jetzt taucht wieder Simons kleines Spieltheoriebeispiel auf. Denn die Zukunft der Wirtschaftsbücher wird aus meiner Sicht überwiegend auf zwei Routen stattfinden. Erstens über die Bücher, die von der KI selbst geschrieben werden (inklusive Empfehlungsmarketing, Herstellung und Vertrieb). Das ist die 500-Mainstreamzone, in der im Moment die meisten Buchexposés entstehen, leider nicht wissend und ahnend, dass die KI in Zukunft selbst die Autorenschaft übernehmen wird. Und zweitens über solche, die nach heutigem technologischen Standard ChatGPT-, DeepSeek- und sonstig KI-frei sein werden. Wenn man so will, wird sich die individuelle Kreativität dorthin zurückziehen und eigene Gesprächs- und Vermarktungskulturen bilden (Self Publishing, Direct Sales, Selbstinszenierung usw.).
Eine weitere Folge: Die von der KI verfassten Bücher werden sich im Herstellungsprozess immer mehr digitalisieren und traditionelle Berufe überflüssig machen (Setzer, Grafiker, Übersetzer …). Print wird in diesem Segment völlig verschwinden. Das gedruckte Wirtschaftsbuch wird indes als Klarstellungsunikat überleben. Dazu gehören Werkzeug-, Methoden- und Prozessbücher. Bisweilen werden hier auch kritische Diskurse als Distanzierungsformate ihren Platz finden, frei nach dem Motto: „Wir protestieren auf allen Vieren!“
Ich war letzte Woche auf der Frankfurter Buchmesse. Mancherorts war der neue Selbstbehauptungswille jenseits KI-infizierter Publikationen spürbar. Auf 250 und 750 war viel von qualitativem Aufbruch zu hören. Die übliche Jammerei ballte sich in der 500-Zone und kulminierte in dem viel gehörten Satz: „Nächstes Jahr gehen wir nicht mehr auf die Buchmesse.“ Das ist traurig, aber unaufhaltsam und zwingend. Wettbewerb und Standort haben eine starke Beziehung (siehe oben).
Ich war 1983 als Student und Buchhändler zum ersten Mal auf der Buchmesse, nicht oft habe ich seither gefehlt. Knapp 40 Buchmessen. Soll ich nächstes Jahr noch hinfahren? Auf 250 und 750 könnten kluge Leute warten. Zu guter Letzt bin ich am Freitag noch in eine Young Adult-Lesung und dann in ein Manga-Gekreische geraten. Kein Jammern, pure Begeisterung. Vielerorts hatte diese Messe genau das umgekehrte Motto.
Peter Felixberger, Montagsblock /345
20. Oktober 2025
* Peter Felixberger: BEEP! BEEP! Read all about it. Bücher, die aus der Zukunft kommen. 208 Seiten. Murmann Publishers, Hamburg 2025