Montagsblock /344

Die US-amerikanische Einwanderungs- und Zollbehörde ICE verfolgt Migranten auf offener Straße – wer Filmaufnahmen von Verfolgungen und Verhaftungen gesehen hat, kann kaum glauben, dass das in amerikanischen Großstädten passiert; die Trump Administration schickt Militär in solchen Bundesstaaten in die Städte, in denen die Demokraten regieren; und Donald Trump redet ganz offen über seine Strategie, den haushaltstechnischen shut-down in den USA dazu zu nutzen, von den Demokraten betriebene öffentliche Programme durch Entlassungen dauerhaft zu schädigen. All diese Kampagnen sind schon für sich bedenklich und bezeugen einen völlig neuen Stil staatlicher Politik, die das sprichwörtliche amerikanische Prinzip der checks and balances konterkariert.

Es ist aber mehr. An diesen Beispielen lässt sich deutlich sehen, worin die Grundbedingungen demokratischer politischer Praxis liegt, nämlich darin, die Opposition als Teil legitimer Staatlichkeit zu institutionalisieren und staatlich zu schützen. Parlamentarische Systeme und auf Mehrheitsermittlung durch Wahlen und Abstimmungen basierte Formen der Zuteilung von Macht sind nur demokratisch zu nennen, wenn die Opposition als Opposition gegen die Regierung und ihre Entscheidungen und Programme angesehen wird und nicht als Opposition gegen den Staat selbst. Das macht den Unterschied zu autokratischen Formen der Herrschaft aus, die vor allem die Teilung der Macht und die Differenzierung in unterschiedliche Formen kollektiv verbindlicher Entscheidungen bekämpfen. Die Unabhängigkeit der Justiz wie die Anerkennung der Opposition als Teil der politischen Gewalten, die Trennung exekutiver, judikativer und legislativer Instanzen ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass demokratische Formen der Entscheidungsfindung möglich sind.

Am Beispiel der USA lässt sich derzeit die Vulnerabilität eines solchen Institutionenarrangements beobachten, das weniger durch einen großen disruptiven Schnitt zerstört wird, sondern dadurch, dass die unterschiedlichen Instanzen sich nicht mehr darauf verlassen können, dass sie je ihre Aufgabe erfüllen können und darin in Ruhe gelassen werden – in dem Sinn, dass penibel darauf geachtet wird, wer welche Kompetenzen besitzt und wer nicht. All das gerät derzeit in Gefahr – und es ist inzwischen so sehr zerstört, dass die schleichende Korrumpierung dieses Mehrebenensystems und dieser funktionalen Differenzierung unterschiedlicher rechtlich-staatlicher Instanzen nicht mehr unsichtbar, sondern explizit erfolgt. Für mich war Trumps Ankündigung, den shut-down explizit zu nutzen, um „demokratische“ Projekte zu schädigen, der deutlichste Sündenfall – nicht in der Sache, sondern in der Systematik eines austarierten Systems, das nur funktionieren kann, wenn Verfahren sich darauf begrenzen, wofür sie angelegt sind: sich auf ihre jeweilige Form zu begrenzen.

Das heißt nicht, dass das immer tadellos funktioniert hat, es heißt auch nicht, dass es nie missbraucht werden konnte. Im Gegenteil – aber zum Missbrauch gehört vor allem, dass dieser sich als das Gegenteil tarnt. Deshalb findet zumeist weder die Bestechung und Korruption noch Drohung coram publico statt, sondern im Verborgenen. Vielleicht ist das Verborgenhalten das deutlichste Anzeichen dafür, dass die Kategorien, gegen die sich solche Strategien richten, wirklich in Kraft sind – wie ja auch der Betrug ein gewisses Vertrauen in die Rechtschaffenheit des Betrügers voraussetzt und die Lüge wenigstens die Unterstellung der Wahrheitsfähigkeit des gelogenen Satzes, sonst könnte man der Lüge ja nicht glauben.

Spätestens wenn die Dinge explizit werden, wenn sie sichtbar werden, wenn gar nicht mehr der Versuch gemacht wird, die eigene Absicht zu verbergen, sind die Verfahren und ist das Vertrauen in sie nachhaltig gestört. Wer offenkundig Gewalt gegen Migranten ausüben kann, wer offenkundig das Militär einsetzt, um ihm nicht genehme Machthaber zu schwächen und wer illegitime Ziele nicht einmal mehr als legitime ausgeben muss, hat es geschafft, die Instanzen und ihre normativen und systematischen Eigenschaften in ihren Grundfesten zu treffen. Schamlosigkeit setzt voraus, dass man sich nicht schämen muss – und schämen muss man sich dann nicht, wenn man den moralischen Übergriff, für den man sich hätte schämen müssen, nicht als solchen betrachtet und die Konsequenzen zu tragen in der Lage ist.

Die Konsequenz ist dann das Recht des Stärkeren – exakt das, was das System von checks and balances, von Gewaltenteilung und Ebenen- und Zuständigkeitsdifferenzierung historisch bekämpft hat. Die Zerstörung einer zivilisierten Demokratie zeigt sich tatsächlich darin, dass das, was immer schon in einer imperfekten Welt versucht wurde, nicht mehr im Verborgenen und nicht mit der Absicht der Verschleierung geschieht, sondern vor aller Augen.

Armin Nassehi, Montagsblock /344

13. Oktober 2025