Montagsblock /336

Und da haben wir ihn wieder: den besonderen Moment, in dem eine dramatische Handlung umschlagen könnte. Ronald McTrump und Vladi Putinesca haben angekündigt, sich nächsten Freitag in Alaska treffen zu wollen, um den Krieg zu beenden. Ihre Ankündigungsrhetorik verheißt jenen Augenblick, der im Theater Peripetie genannt wird. Jener entscheidende Augenblick, in dem ein Wandel stattfindet.

Peripetie kommt vom altgriechischen Peripeteia: Wendung, plötzlicher Umschwung. In der Tragödientheorie des Aristoteles bezeichnet es den plötzlich eintretenden Umschlag der dramatischen Handlung als Lösung des Knotens (Poetik, Kapitel 11, wer es genau nachlesen möchte).

Damit das Peripetie-Prinzip funktioniert, bedarf es vorher einer ausweglosen Zuspitzung der Handlung, die bei allen Beteiligten große Unsicherheit bis Todesangst erzeugt. Jan Philipp Reemtsma hat vor einigen Jahren im Kursbuch-Interview mit Armin Nassehi und mir erläutert, warum es in der Weltgeschichte, selbst am Ende grausamster Kriege und Gewaltexzesse, wiederholt diesen einen Moment gegeben hat, wo der Krieg in Frieden umgeschlagen ist. Plötzlich gebe es „eine Situation, in der sie sich gegenseitig vorspielen: Jetzt geht es wieder anders weiter. Man muss dies vielleicht eine Weile spielen, damit es Wirklichkeit wird. Sonst müssten alle schreiend auseinanderlaufen … Da sitzen zu blei­ben und darauf zu setzen: Jetzt ist es vorbei! Ich kriege keine Kugel mehr in den Kopf, sondern ein Stück Candy in den Mund. Darauf setze ich jetzt, denn es könnte sein, dass es stimmt. Und dann machen die das eine Weile, gucken sich freundlich an und lächeln. Und hinterher müssen die Leichen weggeräumt werden.“ Reemtsma nennt es „das Verschwinden des Unwahrscheinlichen“.

So weit sind wir beim Ukrainekrieg noch nicht. Aber es fällt auf, wie verheißungsvoll in diesen Tagen die Peripetie wieder genutzt wird. Noch gestern herrschte ein Gefühl großer Unsicherheit. Ein Drama ohne Ende. Atom-U-Boote wurden in Stellung gebracht und die täglichen Bomben- und Drohnenangriffe hinterließen totgequälte Soldaten und unschuldige Menschen in ärgster Not. Noch gestern beherrschte uns ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Und weiteres Unglück dräute am Horizont.

Doch die beiden Schauspieler sind kurzfristig zurück auf der aristotelischen Bühne. McTrump und Putinesca sind die Meister des Peripetiespiels. Der eine spricht vom Beenden des Krieges über Nacht. Der andere schraubt rhetorisch an der Atomwaffenspirale, die womöglich zum Einsatz kommen könnte. Plötzlicher Friedensschluss und krasser Vernichtungsexzess als „großartige“ Umschaltmomente der Weltgeschichte. Nebenbei können die beiden ein wenig ablenken von innenpolitischen Bedrohungen wie Epstein-Skandal oder den hohen Zinsen und dem Investitionsverfall in Russland. Aber das tut hier nichts zur Sache.

Es geht um den strategischen Einsatz des Peripetieprinzips, der gleichzeitig unser Widerstands- und Revoltepotenzial zu beeinflussen sucht. Mit der Möhre des großen Umschaltmoments werden wir zumindest ruhiger gestellt. Leichte Entspannung. Und so glauben manche Leitartikler bereits, dass der unwahrscheinliche Frieden jetzt wieder wahrscheinlicher würde. Wir halten uns da eher an den Philosophen Alain: „Der Zweifel ist das Salz des Geistes.“ Denn: „Glauben heißt, nicht frei zu sein, zu urteilen.“

Als Bizarrerie-Forscher betrachten wir McTrump und Putinesca sowieso nur als irrlichternde Groteskeure der Weltgeschichte. Wir wollen jedoch jede Mutlosigkeit ins Kissen drücken und deutlich Nein sagen. Denn Nein sagen bedeutet, den Sinn selbst zu suchen und ihn nicht den Peripetisten zu überlassen. Nur nicht einlullen lassen. Selbst versuchen, zu agieren und Einfluss zu nehmen.

Ein französischer Schriftsteller meinte in den 1950ern: »Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der Nein sagt.« Richtig, und mit dem Nein formuliert er die Grenze des Bis-hierher-und-nicht-weiter. Hinter der Grenze wartet als Alternative das Da-haben-wir-ein-Recht-darauf-Land. Jeder Aufstand, jede Revolution folgt unausweichlich dieser Dialektik. Mit der Grenze des Unerträglichen wird gleichzeitig etwas definiert, was der Mühe lohnt. Aus dem dunklen Nein schält sich ein helles Ja heraus.

Historisch gesehen braucht es genau diese Synchronizität aus dunklem Nein und hellem Ja. In diesen Augenblicken beginnt Widerstand, bisweilen sogar die Revolte. Es ist ein erstklassiger Peripetiemoment, den man selbst mitsteuern kann. Allerdings ist es schwierig, zu bestimmen, wann genau diese Gleichzeitigkeit den unbedingten Drang zu Empörung und Aufruhr auslöst.

Oder anders gefragt: Wann revoltiert ein Mensch? Wenn er nichts mehr zu essen hat, wenn er geknebelt in der eigenen Ohnmacht erstickt oder wenn die Regierenden ob ihres autoritären Lotterlebens den Bogen drastisch unerträglich überspannt haben? Vor allem, wann revoltiert ein Mensch heute, in einer Zeit, wo eine Gewerkschaftsdemo so viel Aufruhr auslöst wie eine zufällige Zusammenrottung von Papageien in der Zoohandlung? Und selbst die Demos gegen rechts wieder eingeschlafen sind? Gleichwohl rechte Horden weiter aufmarschieren, CSD-Partys martialisch bedrohen und Menschen einschüchtern. Im Zeitalter der durchagitierten Menschen verkümmern jedoch laute Parolen nicht selten zu austauschbaren Werbeeinblendungen.

Nur wenige können sich hierzulande eine Revolte gegen das Unerträgliche vorstellen, um dem Unwahrscheinlichen wieder Raum und Bedeutung zu geben. Warum? Weil die Demos im frühmorgendlichen Berufsverkehr stecken bleiben oder im Feierabend-Swing untergehen würden? Im Moment ist das Demo-auf-die-Straße-Potential, wenn man sich umhört, gering. Zumal, wenn alle auf die Peripetistenbühne blicken und sich den großen Frieden von zwei irrwitzigen Irrlichtern erhoffen. Doch die kleine Widerstandsuhr tickt im Hintergrund weiter. Fragt sich nur, wie?

Blick zurück nach vorne. Drehen wir das Rad der Geschichte 200 Jahre zurück und schauen wir uns den radikalsten Revolutionärstyp der Neuzeit an: den Königsmörder. Sein Antrieb, so die politische Exegese, war klar: Als Erfüllungsgehilfe des Paradieses, eine Art selbst ernannter Erzengel, tötet er das Böse, damit das Gute unbefleckt bleibt. Gewalt und Terror kommen selbst ihm, dem Tugendhaften, gerade recht. In seinem speziellen Da-haben-wir-ein-Recht-darauf-Land regieren die von der Vernunft als absolut anerkannten Werte. Für König und Adel war dort kein Platz mehr (dunkles Nein). Ihnen wurde zum Verhängnis, was sie Jahrhunderte lang etabliert hatten: ihre Unberührbarkeit. Erst in der Französischen Revolution fand man Gelegenheit, den Monarchen zu berühren, Hand an ihn zu legen, ihn am Ende sogar zu töten. Die Aura der Unantastbarkeit für das Volk wurde im Handstreich zerstört. Zuvor blickte das Volk ehrfürchtig zum Schloss, dem tabuisierten Kernbereich der Macht. Welche in dem Moment in sich zusammenfiel, als dem Herrscher die eigene Ausgrenzungstaktik zum Verhängnis wurde.

Königsmörder gibt es schon lange nicht mehr. Doch die Logik dahinter blüht interessanterweise in gewaltfreieren Abstufungen immer dann auf, wenn die Strecke zwischen Ich und Wir zu groß wird (die Liste ist lang). Immer wenn das autokratische oder autoritäre Ich unberührbar wird, steigt die Empörung so stark, bis das Wir einschreitet.

Oh, Hoffnungsschimmer, sei umarmt? Denn die autokratischen An-sich-Reißer von McTrump bis Putinesca füttern neben ihrem Peripetie-Popanz auch die Basisenergie für Revolten. Sie zelebrieren zwar einerseits ihre eigene Distanzierung und Unberechenbarkeit. Auf streng bewachten Golfplätzen ebenso wie in prunkvollen Palästen. In krassen Zöllen ebenso wie in furchtbaren Militärschlägen. Ohne es vielleicht zu ahnen, halten sie sich andererseits mehr und mehr das Volk vom Leib. Kriege und Zölle dienen ihnen zwar als Beruhigungspille, Ablenkungsmanöver und symbolisches Zustimmungsbrimborium. Aber sie unterschätzen die eine fatale Nebenfolge: sie distanzieren sich als Teil der großen Parade übermächtiger Selbstbestauner zu weit vom Wir. Sie fühlen sich unantastbar, unberührbar, unglaublich. Gleichwohl liegt genau darin der Keim ihres Untergangs.

Denn unter dem Radar könnten Unsicherheit und das Gefühl des Ausgeliefertseins weiter steigen, gepaart mit der Sorge, ins Abseits zu rutschen und sich nicht mehr selbstwirksam wahrzunehmen. Sich um Wohlstand und Sicherheit sorgend. Mit noch mehr Angst um Kinder und Enkel. Noch verharren viele Menschen im Gefühl von Schulterzucken und der beliebten Strohhalmstrategie persönlicher Wohlstandsrettung. Je länger die gefühlte Talfahrt allerdings anhält, desto eher könnte das Nein aufgehellt werden. Siehe oben: französischer Schriftsteller mit fünf Buchstaben*. Momentan herrscht vielerorts Ohnmacht. Davon kann ich mich auch nicht freimachen. Aber es gibt viel zu tun. Packen wir’s an. Das Ja braucht Scheinwerferlicht. Ich bleibe ein aufrechter NEIN-Optimist.

Peter Felixberger, Montagsblock /336

11. August 2025

*CAMUS, Albert

 Literaturtipps:

Raphael, Severin, Alexis von Hoensbroech: Das Peripetie-Prinzip. Die Kunst wirksamer Führung. Hamburg 2017

Das Verschwinden des Unwahrscheinlichen. Ein Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma über soziales Vertrauen, Gewaltexzesse, Ukrainekrieg und vertrauensbildende Maßnahmen. Von Armin Nassehi und Peter Felixberger. In: Kursbuch 210: Im Vertrauen. Hamburg 2022.