Montagsblock /335

Karl Schlögel bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der emeritierte Professor der Viadrina ist ein ausgewiesener Kenner Osteuropas. Er hat sich zeitlebens mit dem Verhältnis Russlands und der von Russland dominierten Hemisphäre zum Westen beschäftigt. Er ist ein reisender Wissenschaftler, der die Länder aus eigener Anschauung kennt, über die er wissenschaftlich gearbeitet hat. Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er einen gewissen Antagonismus zwischen dem europäischen Osten und dem Westen sieht, der sich immer wieder historisch, militärisch, kulturell, politisch, auch religiös zeigt. Dass es mindestens kein einfaches Verhältnis ist.

Mit großem Gewinn habe ich schon damals seine „ukrainischen Lektionen“* von 2015 gelesen, entstanden in Reaktion auf die russische Annexion der Krim. Er hat hier einerseits gezeigt, dass die Verbesserung der Beziehungen zu Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken vernachlässigt hat, andererseits hat er die Annexion der Krim als einen kulturellen und politischen Imperialismus Russlands rekonstruiert. Was mich an dem Buch fasziniert hat, war die Beschreibung der historisch-kulturellen Kontinuität ukrainischer Städte bzw. Regionen. Wer das Buch liest, erlebt mit, wie nah Schlögel an seinem Gegenstand einerseits ist und wie er andererseits wissenschaftlich-methodische Distanziertheit explizit macht.

Nun soll es hier nicht um das Werk Schlögels gehen, das ich in seiner Vielfältigkeit als fachlicher Laie gar nicht überblicke, sondern um die Reaktionen auf die Verkündung des Börsenvereins, dem Historiker den Friedenspreis 2025 zuzuerkennen. Sieht man sich die sozialen Netzwerke nicht als repräsentatives Medium, aber als Seismograph des Sagbaren an, so gibt es dort viel Zustimmung und auch kritische Bemerkungen, wie es sich für eine pluralistische Öffentlichkeit gehört. Es gibt aber auch das, was derzeit immer sagbarer wird: Eine zur Fratze, zur Karikatur gerinnende Form der Kritik an wissenschaftlicher Differenziertheit. Schlögel warnt vor den imperialen Strategien Russlands (wie andere Osteuropa-Historiker übrigens auch), und er tut das als Wissenschaftler in einer entsprechenden Form. Aber davon bleibt bei Kritikern wenig übrig. Aus der Linkspartei und der abgefallenen Schwester BSW liest man auf X Hinweise auf Kriegstreiberei, auf Verharmlosung des Krieges, auf Feindschaft Russland gegenüber. Eine führende politische Redakteurin der Süddeutschen Zeitung ist klug genug, das wissenschaftliche Werk Schlögels nicht auf „einige angreifbare Positionen“ zu reduzieren. Aber dann heißt es: „Aber am Ende muss man die Frage stellen: Hat sich der Friedenspreis der literarischen Wehrhaftmachung verschrieben?“ Das ist gemünzt auf die Verleihung des Preises 2024 an Anne Applebaum – und sie sieht hier offensichtlich eine Kontinuität walten. Die Münchner Qualitätszeitung ist da in der Formulierung nicht weit entfernt von den notorischen „Nachdenkseiten“, auf denen Schlögel als „‘Kronzeuge‘ für die militaristische Zeitenwende“ bezeichnet wird. Von der Lektüre seiner Werke jedenfalls sind solche Urteile weit entfernt.

Dass man Babys bis Minuten vor der Geburt abtreiben dürfe, hat man Schlögel bis dato nicht vorgeworfen. Aber all das ähnelt jenem Vorwurf, der an die Adresse von Frauke Brosius Gersdorf, der Kandidatin für das Amt einer Bundesverfassungsrichterin, gemacht wurde, gegen die in der letzten Zeit auf eine Weise agitiert wurde, an der sich auch ein völliges Unverständnis von und eine gewisse Verachtung gegenüber wissenschaftlicher Arbeit gezeigt hat. Manche wehren sich dagegen, das sei eine geplante, choreografierte Kampagne gewesen. Aber macht es das besser, wenn all das aus unterschiedlichen Ecken auch ohne Choreografen gleichzeitig kommt?

Die Kandidatin hat eine dezidierte Position, die sich aber nicht einfach als Pro/Contra gegenüber Abtreibung, als Leugnung gegenüber einem angemessenen Würdebegriff oder gar als Tötungsfantasie abtun lässt – und wenn, dann nur unter völliger Absehung von jeglichem Argument. Dass der Begriff der Würde, der Begriff des Lebensrechts, der komplexe Zusammenhang beider Begriffe, auch Zielkonflikte zwischen Rechtsnormen, Nebenfolgen von Regulierungen und nicht zuletzt die Frage der Form der Regulierung und Normierung ein komplexer rechtswissenschaftlicher Diskurs ist, könnte man auch verstehen, wenn man (wie ich) kein Jurist und kein Rechtswissenschaftler ist. Dazu kommt übrigens noch, dass in der Konsequenz sich an der praktischen Frage der Abtreibung nichts Wesentliches ändern würde, würde die Position der Kandidatin gelten. Es dürften keine späteren Abtreibungen vorgenommen werden, sie wären nur aus dem Strafrecht entfernt, weniger bürokratisch und vor allem von den Kassen finanzierbar. Dass das vielleicht für eine Minderheit von katholisch geprägten Unionsabgeordneten aus religiösen Gründen schwer verdaulich ist, ist völlig legitim. Aber auch hier walten unterschiedliche Logiken: die eigene, religiös imprägnierte Weltanschauung auf der einen Seite, die Logik eines Abstimmungssystems, das Zweidrittelmehrheiten genau dafür einsetzt, dass sich nicht fundamental einseitige Positionen gegenüber einer gesellschaftlichen Pluralität durchsetzen können -von allen Seiten übrigens.

Beide Fälle zeigen, dass es immer schwerer wird, eine wissenschaftliche Logik als solche sichtbar und plausibel zu machen. Dazu gehört übrigens auch, nicht einfach Schlag- und Signalwörter zu verwenden, sondern Begriffe zu entwickeln, also reflexiv über das Verhältnis von Begriff und Begriffenem nachzudenken – das gilt in dem einen Fall etwa für den Begriff des Imperialismus, in dem anderen für den der Würde. Zur wissenschaftlichen Logik gehört übrigens auch, dass man sowohl als Historiker bezüglich der imperialen Gesten Russlands wie als Juristin bezüglich des Abtreibungsrechts zu ganz unterschiedlichen, dennoch wohlbegründeten Urteilen kommen kann. Wer Expertise mit Eindeutigkeit verwechselt und Wissenschaft vom Gegenstand determiniert betrachtet, hat schlicht keine Ahnung. Aber als wissenschaftlicher Streit bedeutet das auch, dass man kein „Kriegstreiber“ ist, wenn man die Position Schlögels vertritt, und kein lebensfeindliches Monster, wenn man wie Brosius-Gersdorf argumentiert – übrigens auch kein Friedensengel oder alleiniger Hüter der Menschenwürde, wenn man das Gegenteil vertritt. So simpel ist die Welt nur für Ideologen und Kulturkämpfer.

Die Wissenschaftsfreiheit lebt nicht nur davon, dass man wissenschaftlich vertreten kann, was man will und was einem als richtig erscheint. Die Wissenschaftsfreiheit lebt auch von externen Bedingungen, die wenigstens Mindeststandards einer Fähigkeit erwarten lassen, wissenschaftliche von politischen, weltanschaulichen oder religiösen Sätzen zu unterscheiden. Wenn es nicht mehr möglich ist, wissenschaftlich begründete Aussagen, reflexiv im Hinblick auf Gegenstandskonstitution, Fragestellung und methodische Formen anzubieten, ohne dafür ausschließlich politisch oder ideologisch beobachtet zu werden, wirkt sich das auch auf jene innere Freiheit aus, die man zum Forschen braucht. Der Tod freier Wissenschaft wäre die Schere im Kopf.

Wie stets bietet in solchen Fragen der US-Präsident den extremen Referenzrahmen an. Trump hat vor wenigen Tagen Erica McEntarfer entlassen. Die erfahrene Statistikerin und Kommissarin des U.S. Bureau of Labor Statistics wurde direkt nach der Veröffentlichung eines Arbeitsmarktberichts über den Monat Juli ihres Amtes enthoben, weil die Ergebnisse so schlecht ausgefallen sind. Dass die Wissenschaftlerin in Diensten der Behörde auch noch von Joe Biden eingesetzt wurde, wirft wahrscheinlich ein besonderes Licht auf ihre Ergebnisse. Das ist der Sound, der sich in Diskussionen wie den beiden hier genannten Fällen langsam Bahn bricht. Die Effekte dessen sind zweierlei: Wissenschaft und Wissenschaftler werden in öffentlichen Diskussionen oft nicht als solche angesehen, sondern nur als Meinungsträger, und innerhalb der Wissenschaft wird in solchen Kontexten die Möglichkeit der Abweichung und des Streits eher schwieriger. Das ist keine gute Nachricht.

Ich habe mich übrigens sehr darüber gefreut, dass der Kollege Schlögel mit dem Preis bedacht wurde. Liebe Leserinnen und Leser dieses Montagsblocks, glauben Sie mir, das lässt tief blicken.

* Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München: Hanser 2015.

Armin Nassehi, Montagsblock /335

04. August 2025