Montagsblock /333

Kurz vor meinem 60-jährigen Fanjubiläum bei 1860 hier der 333. Montagsblock, seit es Montagsblocks gibt. Fangen wir im Vorkurzem an: Das Klub-WM-Finale Chelsea gegen Paris St. Germain habe ich mir geschenkt. Was drei Gründe hatte. Erstens: der infantile Infantino mit seiner infanteristischen Geldgier. Zweitens: der langweilige Söldner-Schablonenfußball mit zwangsjackiger Positionstreue. Und drittens: Fußball als Leviathan-Sport mit Trainern als einzige Souveräne, die die Abläufe bestimmen, vor und nach dem Spiel, dazwischen und mittendrin. Analog zum englischen Philosophen Thomas Hobbes könnte man übersetzen: »Der Trainer ist für uns der Gesetzgeber.« Der Spieler ist in dieser Codierung der Beherrschte. »Ein Gesetz ist ein Befehl desjenigen oder derjenigen, die die Souveränität innehaben, gerichtet an jene, die seine oder ihre Untertanen sind, in dem öffentlich und unmissverständlich erklärt ist, was jedem von ihnen erlaubt ist und was sie unterlassen müssen«, schrieb der große Hobbes vor Jahrhunderten.

 

Trainer und Trainerstab diktieren den Spielern ihr Verhalten auf dem Fußballplatz. Man starrt zuvor gemeinsam auf Zeichenschablonen, auf denen komprimiert wird, was der Spieler später auf dem Feld zu exekutieren hat. Alles folgt dem vorher festgelegten Plan. Abweichendes Verhalten ist nur erwünscht und wird postspielend legitimiert, wenn’s in der Folge ein Tor geben sollte. Dann sorgt eine alternde Expertenriege für Strategieplausibilität  rund um den Zufall. Kein Wunder, dass Räume zugestellt, Laufwege unterbunden, Seiten überladen, Spieler gedoppelt werden und Umschaltspiel auf Pressing folgt. Fußball als Computerspiel. Mit Taktikmärchen, die konsistent konfus wirken.

 

Das Problem eines Romantikers, wie ich es bin, ist: der Ball hat in diesem Storyverse keine Zeit mehr, seine anarchischen Fangnetze auszuwerfen. Die Mobilität des Balles wird so stark vorkontrolliert, dass er wie von einer Schnur gezogen über das Spielfeld läuft. Und die Spieler sprinten ihren im Training aufgezeichneten Laufwegen hinterher. Repeat-Taste: Dembelé von rechts nach innen, Nuno Mendes von links bis zur Torauslinie. Enrique applaudiert. Und das Publikum feiert frenetisch, wenn der Ball plötzlich aus der geplanten Vorstellung heraushüpft und macht, was er will. Abpraller, Fehlpass, Verstolperer. Kommt jedoch selten vor, denn alle Eventualitäten sollen vorher zu Gewissheiten zwangsmutieren. Diktieren Trainer und Stab. Stillgestanden, Kreativität!

 

Widerstand zwecklos! Der im letzten Jahr verstorbene Kettenraucher und frühere argentinische Nationaltrainer César Luis Menotti, genannt El Flaco, war einer der letzten bekannten Gegner des neuen Trainer- und Funktionärsimperialismus. Seine Aussage: »Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt«, darf als fast schon in Vergessenheit geratener Gegenentwurf gelten. Auf die Frage, welchen Einfluss ein Trainer haben sollte, antwortete Menotti einst: »Welchen Einfluss hatte Ihr Mathelehrer? Ein schlechter Lehrer macht dir das Leben zur Hölle, deshalb hasste ich Mathematik. Ein großartiger Trainer mit großartigen Spielern bildet ein großartiges Team. Ein großartiger Dirigent mit großartigen Musikern bildet ein großartiges Orchester. Ein schlechter Trainer kriegt nur Mittelmaß zusammen, da kann er die besten Geiger holen. Und du musst es schaffen, dass sie dich nicht nur wegen deiner Fähigkeiten als Trainer akzeptieren, sondern auch als loyale Person. Fußball ist eine große Verpflichtung.«

 

Ja, das ist es. Nämlich auch die Verpflichtung, das Künstlerische und Anarchische im Spiel zu belassen. Im modernen Management nennt man beides Kreativität. In der neuen Digitalökonomie kann die systemische Vollkommenheit nur mit dem permanenten Einsatz von Kreativität gewährleistet werden. In dieser kreativen Wirtschaft wird Qualität zur entscheidenden Erfolgskategorie. Übersetzt: Wenn ich als Unternehmen etwas besser kann als andere, sprich einzigartige Produkte entwickle, kann ich höhere Preise verlangen und mein Überleben sichern. Um aber zu einzigartigen und unverwechselbaren Produkten zu kommen, muss Wissen ständig auf einzigartige Weise miteinander verknüpft werden.

 

Kreativität ist deshalb nichts anderes als die Fähigkeit zur schöpferischen Problemlösung in einer Welt sich ständig wandelnder Bedürfnisse. Das bedeutet, jeden Tag sehr intensiv Wissen zu schaffen und zu vermitteln. Kreativität sucht permanent nach neuen Gelegenheiten. Es geht immer darum, Gelegenheiten zu ergreifen, um kreativ zu sein. Thomas A. Becker hat Kreativität deshalb »als Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten« definiert, anders gesagt: »als Verwendung von Zufällen zum Aufbau von Strukturen«.

Wer den Fußball in diesen Kontext positionieren will, muss den Leviathan in den Trainer- und Funktionärsköpfen besiegen. Es geht im Fußball heute um eine Revitalisierung des Unerwarteten. So, dass 22 Spieler den Augenblick wieder als Gelegenheit betrachten können, mit dem Zufall zu spielen und Ungewöhnliches auszulösen. Sie begeben sich wieder auf die Suche nach dem Chaos, den jeder Augenblick so grandios in sich trägt. Begleitet von Trainern, die Respekt vor der Wildnis auf dem Platz haben und nicht jede Szene vorentscheiden oder vorausplanen wollen.

Hier liegt der Kern des Fußballs. Das hat auch César Menotti so gesehen: »Man soll das Kulturgut Fußball respektieren, das Spiel. Heute gehört der Fußball dem Big Business, und wenn da beschlossen wird, dass um drei Uhr morgens gespielt wird oder in Afrika, dann spielt man um drei Uhr morgens oder in Afrika.« Es war genau dieses kreative Chaos, das der große, 2015 verstorbene Trainer Udo Lattek so präzise umschrieb: »Sie spielen taktisch gut, obwohl sie ohne Taktik spielen.« Welche Aussicht! Fußball wiederzuentdecken als schönste Nebensache der Welt und als grundlegende Replik auf die emotionslose Allmachtsrhetorik der Spieler und Funktionäre im Dienst des Big Business. Wieviel verdient Mbappé gleich wieder?

Ich werde ab August wieder mit meinem Lieblingsverein TSV 1860 München mitfiebern. Dritte Liga. Und von der alten Kamelle erzählen, als ich an einem leicht bewölkten Augustnachmittag anno 1965 mit meinem Vater und einem Onkel in der ebenerdig dritten Stehplatzreihe im Grünwalder Stadion 90 Minuten lang auf die Hintern der vor mir stehenden Erwachsenen gestarrt hatte. Nachdem das Spiel endlich vorbei war, fragte der Knirps, wer gewonnen hätte. „Die Blauen natürlich“, lachte mein Vater. Einmal Löwe, immer Löwe. Seit 60 Jahren. Endlos-Soap mit aktuell wieder auferstandenem Investor, Märchenerzählern in der Vorstandsriege und überschäumenden Fanerwartungen!

Peter Felixberger, Montagsblock /333

21. Juli 2025

P.S. Der Vollständigkeit halber: Kollege Nassehi fiebert mit Schalke 04 (blau) und Kollegin Anderl mit Werder Bremen (grün). Beide Vereine sind für einen Sechzger farblich natürlich satisfaktionsfähig.