Nein, das soll nicht noch ein Hinweis auf den geradezu stümperhaften Verlust von Professionalität der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen sein. Zumindest die demokratischen Institutionen haben die Aufregung eingefangen und nun etwas Langsamkeit eingebaut, um das nachzuholen, was die handelnden Akteure zuvor versäumt haben, Akteure, die nach dem Regierungswechsel mit einer Kompetenzoffensive Vertrauen zurückgewinnen wollten. Es darf gelacht werden.
Bemerkenswert ist etwas anderes. Dass es in einer konservativen Partei konträre Auffassungen zu manchen Positionen einer der Kandidatinnen gibt, darf niemanden erstaunen, und es ist auch völlig legitim. Soll man Konservativen ihren konservativen Markenkern vorwerfen? Und kann man sich nicht vorstellen, dass Konservative manche Position auch unabhängig von unappetitlichen Nachrichtenportalen wie „NIUS“ und ähnlichen haben? Gilt das nicht auch für andere Positionen?
Üblicherweise wäre die Personalie dennoch unproblematisch gewesen, denn die Besetzungsverfahren ebenso wie langjährige eingespielte Praxis haben stets dafür gesorgt, dass das Verfassungsgericht pluralistisch besetzt wird, um Schlagseiten zu vermeiden. Und Kompromisse im Vorfeld als „Hinterzimmer“ zu diskreditieren, zeigt nur, wie wenig manche von parlamentarischen Verfahren verstehen. Dass es im Gericht natürlich auch um politische Einschätzungen geht, ist selbstverständlich, aber im Vordergrund steht juristische Prüfung. Diese Differenz hat das Bundesverfassungsgericht stets reflektiert – und es ist keineswegs so, dass Richterinnen und Richter stets nach den Auffassungen derjenigen Parteien entschieden haben, die sie für die Wahl nominiert haben, ganz im Gegenteil. Die kompromissgeleitete Besetzung der Richterstellen soll genau das ermöglichen. Der ehemalige Verfassungsrichter Peter Müller sagte der Süddeutschen Zeitung zur Praxis des Gerichts: „… es zählt in den Beratungen dort das juristische Argument, sonst nichts. Wer da versucht, Politik zu machen, ist nicht gesprächsfähig. Für mich dokumentiert dieser Vorgang, dass wir in der politischen Mitte zunehmend unfähig werden, andere Meinungen auszuhalten.“
Warum ist die Sache so aus dem Ruder gelaufen? Eine Szene ist interessant. Bei aller Stümperhaftigkeit in der Planung des Geschehens macht es den Bundeskanzler fast sympathisch, als er auf die Nachfrage einer AfD-Abgeordneten im Bundestag, ob er die kritisierte Kandidatin der SPD guten Gewissens wählen könne, mit „Ja“ antwortet – nicht weil er vielleicht deren Positionen teilt, sondern weil er die Natur des Kompromisses und des Verfahrens im Blick hat. Diese auf eine Art naive Antwort aber könnte die Sache mit ins Rollen gebracht haben – und bestätigt das, was der ehemalige Verfassungsrichter meinte: die zunehmende Unfähigkeit in der politischen Mitte, andere Auffassungen auszuhalten.
Das Bemerkenswerte an der gescheiterten Wahl ist also, dass es kaum noch gelingt, Konfliktfragen als Konflikte um Auffassungen zu behandeln, sondern nur noch als Kulturkampffragen. In der Gemengelage einer, noch einmal, stümperhaft geplanten Wahl wurde aus inhaltlichen Differenzen, sekundiert durch mediale Eskalationsstrategien, eine kulturkämpferische Form. Was unterscheidet Konflikte und differente Auffassungen von Kulturkämpfen? In Konflikten geht es um Nein-Stellungnahmen, es geht darum, zu einem konkreten Thema eine andere Auffassung zu haben und das auszutragen. Dafür sind demokratische Verfahren gemacht – solche Differenzen zivilisiert austragen zu können, den Konflikt in eine Form zu bringen und vor allem die unterlegene Seite so in den Prozess einzubinden, dass man bei der nächsten Frage weiterkommunizieren kann. Genau genommen sind solche Verfahren dazu da, kompromisslose Ideologen und Moralisten zur Selbstrelativierung zu zwingen. Das gelingt nicht immer, aber das ist die Funktion.
Kulturkämpfe funktionieren anders. In Kulturkämpfen geht es stets ums Ganze. Jede Detailfrage steht für das Ganze. Jede Abweichung von eigenen Erwartungen wirkt sich auf alle anderen Fälle aus – es geht dann nicht mehr um Sachfragen, sondern nur noch um Identitätsfragen, und Sachfragen werden dabei vollständig instrumentalisiert. Um aller Kolportage vorzubauen: das kommt sowohl links als auch rechts der Mitte vor, während die Protagonisten naturgemäß stets die andere Seite verantwortlich machen. Das ist gewissermaßen die logische Geschäftsbedingung kulturkämpferischer Formen. Deshalb ist derzeit die Behauptung, es werde gerade eine „links-grüne Hegemonie“ gebrochen, genauso dumm wie manche Diskreditierungen alles explizit Konservativen als rechtsradikal.
Am konkreten Fall lässt es sich deutlich beobachten – insbesondere an der Position zum Schwangerschaftsabbruch. So weit ich sehe, vertritt die kritisierte Kandidatin eine verbreitete Position, die übrigens von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Sieht man sich die bio-ethische Debatte der letzten beiden Jahrzehnte an, muss man sich darüber wundern, dass es gelingt, diese Position für eine extreme Position zu halten. Dass und wie dem Embryo in jedem Falle ein zu schützendes Lebensrecht zukommt, dass die Unbedingtheit der Menschenwürde von sowohl normativen als auch von empirischen Fragen abhängig gemacht wird – all das wird lang und breit diskutiert, und zum Teil sind die Positionen gar nicht so einfach politisch zuzuordnen. Bis in die theologische, wenigstens die evangelisch-theologische Ethik hinein wird ernsthaft darüber diskutiert, ab welchem Stadium der Entwicklung der Lebensschutz, nicht aber die Würdegarantie greift, ganz abgesehen von den praktischen Zielkonflikten, in die die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch immer gerät. Ich habe dazu eine Position, aber darum geht es hier gar nicht.
Wenn man sieht, wie die Position der Kandidatin in den sozialen Medien und anderen Verstärkermedien zur Karikatur entstellt wird – es ist von Abtreibungen kurz vor der Geburt die Rede etc. –, hat nicht nur nichts mit deren Position zu tun, sondern ist in geradezu klassischer Weise Kulturkampf, also ein völliges Zurücktreten irgendeiner sachlichen Frage hinter Wirkungstreffer, die die Gegenposition zu zerstören trachten, in diesem Falle bis zur Bedrohung und Denunziation der Person gegenüber, die offensichtlich deswegen derzeit Personenschutz benötigt.
So naiv das Argument auch sein mag: Politik gerät derzeit nicht aus Sachfragen, aufgrund von falschen Entscheidungen oder inhaltlicher Ratlosigkeit aus den Fugen und verliert an Reputation. Es ist die fast alternativlos gewordene kulturkritische Attitüde, die jedes Thema zu einem manichäischen Kampf ums Ganze gemacht hat. Daraus gibt es kaum ein Entrinnen, denn die kulturkämpferische Attitüde wird sich nicht durch gute Gründe einfangen lassen.
Der Fall in der letzten Woche zeigt, dass eine Stärke der Demokratie verlorengeht. Der gepflegte Kompromiss wird diskreditiert und es werden nur noch Extrempositionen zugelassen – und noch einmal sei gesagt, dass das nicht nur eine Spezialität rechter Orientierungen ist, sondern auch von der anderen Seite gepflegt wurde und wird. Das Problem ist, dass bei Identitäts- und Überzeugungsfragen jeder Depp eloquent mitreden kann. Für Sachfragen gilt das kaum – und es sieht fast so aus, als sei das ein Webfehler der Demokratie, dass ihr Mehrheitsprinzip inhaltlich so enthaltsam ist, dabei ist das genau genommen ihre Stärke. Wenn aber die Kompromissfähigkeit verschwindet, werden es Sachfragen schwer haben. Als Boomer darf ich sagen, dass ich die Tatsache, dass bei der Bundestagswahl fast die Hälfte der Erstwähler mit den Linken und der AfD Parteien gewählt haben, die sich zwar grundlegend voneinander unterscheiden, aber in einer Hinsicht eine Gemeinsamkeit haben: ihre Argumente konnten ohne jegliche Erwartung auf mögliche Kompromisse, Koalitionsmöglichkeiten und Regierungserwartungen formuliert werden und hatten deshalb besondere Freiheitsgrade. Das wurde offensichtlich als attraktiv empfunden (womit übrigens die Wahlkämpfe der Union mit fiskalisch ungedeckten Programmen und der SPD mit purer Folklore auch keine Preise gewinnen konnten).
Die ganze Affäre hat noch eine weitere Dimension, nämlich eine wissenschaftsfeindliche. Inkriminiert werden hier ja vor allem wissenschaftliche Texte und wissenschaftlich begründete Statements. Wissenschaft formuliert keine unbedingten Sätze, sondern muss wie kein anderer Bereich die Bedingungen der eigenen Sätze angeben und reflektieren. Streit in der Wissenschaft, unterschiedliche Auffassungen und Konflikte entstehen vor allem dadurch, dass Argumente und Forschung mit unterschiedlichen Prämissen umgehen, die Konsequenzen unterschiedlicher Prämissen prüfen können und in einem zweiten Schritt dann Folgerungen ableiten. Wer das nicht versteht, nimmt irgendeinen Satz aus einer Fußnote und stellt ihn der eigenen Meinung gegenüber. Auch hier wird es immer schwieriger, auf Kompetenzen setzen zu können – Rezeptions- und Lesekompetenzen oder auch ein Grundverständnis für die Genese wissenschaftlich begründeter Positionen. Aber dieses mein Argument läuft insofern in die falsche Richtung, als es in Kulturkämpfen darum nicht geht – eher um die Verdeckung solcher Möglichkeiten.
Armin Nassehi, Montagsblock /332
14. Juli 2025