Montagsblock /328

Vor 25 Jahren habe ich Abitur gemacht. Leistungskurse Kunst und Mathe. Und ich finde es immer noch ein bisschen lustig, dass ich in der Abi-Zeitung von damals als „Picasso des Jahrgangs“ verewigt wurde, während meine gleichermaßen ausgeprägte Mathebegeisterung keine historischen Spuren hinterließ. Das war der Endpunkt eines roten Fadens, der sich durch meine gesamte Schulzeit zog: Die Mathegenies waren fast immer die anderen, und meist männliche Mitschüler, selbst wenn die gar nicht besser waren als ich. Ich habe trotzdem Physik studiert. Obwohl mich die Ungleichbehandlung damals wahnsinnig geärgert hat, hat sie mich immerhin nicht nachhaltig demotiviert. Glück gehabt, würde ich sagen. Wäre sicherlich schade gewesen, wenn mich das meinen Werdegang als Astrophysikerin gekostet hätte. An diese Erfahrungen musste ich zurückdenken, als ich vor ein paar Tagen eine neue Studie in der Fachzeitschrift „Nature“ las, in der es um die Entstehung der „Mathe-Geschlechterlücke“ geht.

Dass Jungs besser in Mathe sind als Mädchen, ist nämlich ein Phänomen, das erst in der Schule auftritt. Bei Babys und Kleinkindern scheinen die mathematischen Fähigkeiten (konkret: Umgang mit Objekten, Räumlichkeit, Zahlen) noch geschlechterneutral verteilt zu sein. Das verändert sich dann sehr schnell, sobald die Kinder in die Schule kommen. Auch das ist in verschiedenen Studien dokumentiert. Es liegt daher nahe, diesen Effekt auf soziokulturelle Einflüsse zu schieben: auf geschlechtsbezogene Erwartungen der Erwachsenen, existierende Stereotype und Ungleichbehandlung durch die Lehrer. Aber beruhen solche Erwartungen nicht ihrerseits darauf, dass Jungs wirklich besser in Mathe sind? Und dass sich Mädchen von sich aus mehr für Sprache interessieren?

Die genannte Studie aus Frankreich ist die erste, die dieser Frage auf der Grundlage eines riesigen Datensatzes nachgeht. Vier komplette aufeinanderfolgende Jahrgänge französischer Erstklässler zwischen 2018 bis 2022, insgesamt fast drei Millionen Kinder, wurden dafür beobachtet. Deren mathematische Fähigkeiten wurden auf verschiedene mögliche Einflüsse geprüft: Alter, Schultyp, pädagogische Ausrichtung, sozioökonomischer Status und Beruf der Eltern, Familienzusammensetzung, Schulumfeld, Klassenstärke, geographische Herkunft. Die Geschlechterlücke zeigte sich überall gleichermaßen, fast unabhängig von diesen Faktoren, und zwar sehr schnell, schon vier Monate nach der Einschulung. Während der weiteren Ausbildung zeigte sie sich immer ausgeprägter.

Dass dieser Effekt tatsächlich mit der Einschulung und nicht mit dem Alter der Kinder zu tun hatte, demonstrierten die Wissenschaftler um Pauline Martinot von der Universität Paris Cité, indem sie Kinder, die in einem Jahr als Jüngste des Jahrgangs gerade noch eingeschult wurden, mit fast gleichaltrigen Kindern verglichen, die erst im Folgejahrgang als dann Älteste eingeschult wurden. Trotz des gleichen Alters entwickelten die einen die Geschlechterlücke, die anderen erst ein Jahr später. Interessant: der Einfluss des sozioökonomischen Status. Je höher er war, desto stärker war der Geschlechterunterschied.

Die Wissenschaftler erklären sich die Ergebnisse folgendermaßen (auch wenn sie betonen, dass es sich hier nur um Korrelationen handelt und sie daher nur Hypothesen liefern können): Zunächst bestätigen sie, dass die Geschlechterdifferenz nicht darauf zurückzuführen ist, dass sich von vornherein die mathematischen Fähigkeiten von Jungs und Mädchen unterscheiden oder sich diese mit dem Alter unterschiedlich entwickeln. Das sehr plötzliche Auftreten der Differenz könnte vielmehr daran liegen, dass in der Schule mathematische Beschäftigungen plötzlich unter dem Label „Mathematik“ geführt werden, und dadurch erst dann existierende Geschlechterstereotype zum Tragen kommen.

Beitragen mag dazu das Verhalten der Lehrer, das Jungen oder Mädchen gegenüber unterschiedlich sein könnte: „indem sie Mädchen eher zum Lesen als zum Rechnen motivieren, oder indem sie mathematische Erfolge bei Jungen auf deren größere intellektuelle Leistungsfähigkeit zurückführen, während bei Mädchen eher deren besonderer Fleiß verantwortlich gemacht wird“, schreiben die Autoren. Auch Zuschreibungen innerhalb der Familien und auch unter den Schülern selbst mögen hier Beiträge liefern. So könnte die stärkere Lücke in sozioökonomisch höherstehenden Gruppen hinweisen, dass die hier oft stärker interagierenden Eltern Stereotype weiter verstärken. Interessant in diesem Zusammenhang: Schulausfälle während der Pandemie und die in Frankreich zweieinhalb Monate dauernden Sommerferien reduzierten wiederum die Leistungslücke.

Was heißt das für das Vorhaben, Mädchen vor dem Verlust ihrer Begeisterung für die Mathematik zu bewahren? Die Wissenschaftler schreiben, dass auf der Grundlage ihrer Studie eine ganze Reihe Stellschrauben als nicht so entscheidend gelten können: Klassengröße, Geschlechterverhältnis oder das Leistungsspektrum in den Klassen. Stattdessen, so schlagen die Autoren vor, sollten die Grundschullehrer noch stärker für das Problem sensibilisiert werden. Sie sollten darauf achten, Jungs und Mädchen ähnlich häufig im Unterricht zu befragen und die Talente der Kinder gleichermaßen zu fördern.

Für mich klingt das sinnvoll. Denn meine anekdotische Privatempirie bestätigt die Studienergebnisse vollständig. Von Mädchen in meiner Familie habe ich als Erklärung für Matheerfolge Aussagen gehört wie: „Ich habe auch viel gelernt“ oder „der Lehrer mag mich halt“. Während es für Jungs keine Frage war: Gute Mathenoten sind Ausdruck mathematischen Talents. An meinen eigenen Matheunterricht in der Grundschule habe ich im Übrigen keine Erinnerungen mehr. Aber in der 5. Klasse hatte ich einen Lehrer, der mir immer besondere Knobelaufgaben gab, wenn ich vor allen anderen fertig war. Und wie sehr mich das motiviert und für die Mathematik begeistert hat, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Vermutlich war das eine entscheidende Erfahrung, die mich durch die Jahre trug, als ich später Mathelehrer hatte, die von meinen Fähigkeiten weniger hielten. Und vielleicht ist das etwas, das Hoffnung macht: Schon wenige gute Lehrer könnten einen großen Unterschied machen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /328

16. Juni 2025