Montagsblock /329

Ich habe eine ganze Woche darüber nachgedacht, wie ich diesen Montagsblock schreiben könnte und fast alle Zugänge verworfen. Als Thema habe ich mir – vielleicht naiv, vielleicht unrealistisch, vielleicht zu emotional – vorgenommen, angesichts der Diskussionen um Militärstrategien, um Taktiken und Strategien, um Rechtfertigungsfragen, um Kriterien der Angemessenheit, um konsequentialistische und deontologische Denkungsarten, um die Möglichkeit und Erfolgsaussichten von regime changes, um das Opportune und all die Dilemmata, vor denen Entscheidungen militärischer Natur stehen, über eine Konsequenz all dieser Fragen nachzudenken: darüber nämlich, dass bei all dem Menschen sterben, Menschen unterschiedlicher ethnischer und nationaler Zugehörigkeit, unterschiedlichen Involviertseins in das Geschehens, aber allesamt Menschen.

Ich wäre auf die religiös formulierte Heiligkeit des Lebens gestoßen, säkularer auf den unbedingten Wert nicht des menschlichen Lebens überhaupt, sondern jedes einzelnen menschlichen Lebens. Ich wäre sicher auf die Unterscheidung gekommen, dass man nach dem ius in bello zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterscheiden muss. Und noch mehr wäre ich darauf gestoßen, dass diese Unterscheidung in modernen Kriegen immer untauglicher wird. Und es wäre mir nicht verborgen geblieben, dass das Kriegsvölkerrecht ebenso wie philosophische Ethiken sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit Zivilbevölkerungen in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen.

Ich wollte aber eigentlich nur zum Ausdruck bringen, wie leicht es fällt, über Todeszahlen zu reden, über die Todesangst von Menschen in Kyjiw, in Tel Aviv, in Gaza, in Teheran und anderen Städten und Regionen – gewissermaßen als Parameter unter Parametern bei der Beurteilung sowohl des Geschehens als auch der Pläne. Ich habe alle möglichen Formulierungen versucht – und fast alle erschienen mir naiv – naiv angesichts der Fragen, die ja tatsächlich beantwortet werden müssen, Fragen nach den geostrategischen, politischen, womöglich sogar ökonomischen Kosten all dessen, hinter denen diese Summierung individueller Toter wie tatsächlich naive Fragen erscheinen angesichts womöglich epochaler Ereignisse. Ich wäre mit Sicherheit auch darauf gekommen, wie ungleich die Betroffenheit über getötete Menschen verteilt ist, ja dass manche kaum eine Meldung wert sind, andere dagegen schon. Es ist eigentlich eine Binse, dass die Beurteilung des Geschehens gerade in Konflikten zu Einseitigkeiten neigt, sonst wären es keine Konflikte.

Und genau dieser Asymmetrie wollte ich eine Symmetrie entgegensetzen, dass es aus grundsätzlichen Erwägungen keine Begründung gibt, zwischen einem getöteten oder bedrohten Kind in Gaza, in Tel Aviv, in Kyjiw, in Teheran zu unterscheiden. Wir können sie uns alle heute nur als Gleichwertige vorstellen, auch wenn sie, denkt man an die beteiligten Parteien, in Regionen leben, in denen der Wert des einzelnen Lebens sehr unterschiedlich geachtet wird, auch (oder gerade) das der eigenen Leute. Dennoch muss auch der symmetrisierende Satz gesagt werden, dass jedes getötete Leben eine Tragödie ist (mit der Einschränkung, dass die Tötung strategisch relevanter Personen, allesamt Mörder und Kriegsverbrecher, kaum zu Trauer Anlass gibt, aber das ließe sich in der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten abbilden).

Der symmetrische oder symmetrisierende Satz, den ich sagen wollte, hat letztlich gegen all das, was diskutiert werden muss, keine Chance. Und dass ich nun sogar extra betone, dass ich nicht so naiv bin (und nicht so naiv sein will), aus dem symmetrisierenden Satz eine Symmetrisierung der Konfliktgegner abzuleiten, erhöht womöglich noch den Naivitätsverdacht, darauf hinzuweisen, wie leicht es doch fällt, Opferzahlen so ähnlich zu verwenden wie technische Daten über Waffentechnik oder Ähnliches. Meine Solidarität gilt nicht allen Konfliktparteien gleichermaßen, im Gegenteil: Ich bin hier in einer ziemlich eindeutigen Weise parteiisch, selbst wenn im Falle der Ereignisse in Nahost das Objekt meiner größten Solidarität es einem nicht wirklich leicht macht. Aber auch das relativiert nicht den symmetrisierenden Gedanken, schwer aushalten zu können, getötete Menschen nur als Kollateralschäden sehen zu können, sprechen sie nun arabisch, hebräisch, persisch, ukrainisch oder russisch.

Genau genommen hätte ich diesen Montagsblock gar nicht schreiben können, weil das Argument tatsächlich naiv erscheint – oder womöglich nur als Tugendausweis des Autors, der es sich in kommoder Entfernung von den Ereignissen leisten kann, zu symmetrisieren. Aber vielleicht ist es doch gut, dass er trotz allem geschrieben wurde – und wenn nur deswegen, um zu demonstrieren, dass man ihn eigentlich nur um den Preis hat schreiben können, dass der Hinweis unter Naivitätsverdacht fällt. Ist das nicht Ausdruck der ganzen Katastrophe, mit der wir zu tun haben? Die Katastrophe besteht darin, dass in den gegenwärtigen Konstellationen nicht einmal annähernd das Richtige getan werden kann, ohne schuldig zu werden.

Armin Nassehi, Montagsblock /329

23. Juni 2025