Neulich stand ich an einer S-Bahn-Haltestelle. Sagt neben mir eine unbekannte Person zu einer anderen: „Für die Flüchtlinge wird doch alles gemacht, für uns nichts mehr.“ Ich denke mir: zwei Spinner mehr, sage nichts und gehe weiter. Natürlich könnte ich den beiden jetzt entgegnen, dass der Staat für Flüchtlinge gar nicht so viel Geld ausgebe. Und die Höhe des monatlichen Bürgergeldes (563 Euro) ist bei weitem auch nicht „alles“, was der Staat im Rahmen derzeit großer Aufrüstungs- und Infrastrukturpläne zu geben imstande wäre.
Zu Hause angekommen lese ich nach, wie sich vor 150 Jahren der Sozialstaat in der ersten Phase der Industrialisierung herausgebildet hat. Damals wurde ein paternalistischer Deal festgelegt, demzufolge der Staat einerseits Souverän und Fürsorger seiner Bürger ist, andererseits der Bürger ein mit Teilhaberechten ausgestattetes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft ist. Soll heißen: Der Sozialstaat fordert und fördert. Einerseits fordert er die politische Loyalität der Bürger, andererseits fördert er deren individuelle Wohlfahrt, auch und vor allem wenn’s zwickt. Das nennt man Inklusion.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat dazu geschrieben: „Jede Person muss Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können. Jeder muss rechtsfähig sein, eine Familie gründen können, politische Macht mit ausüben oder doch mit kontrollieren können; jeder muss in Schulen erzogen werden, im Bedarfsfalle medizinisch versorgt werden, am Wirtschaftsverkehr teilnehmen können. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.“ In eine Gemeinschaft integriert sein bedeutet, eine gefestigte Ausgangsposition zu haben, um seine Lebenspläne in freier Selbstbestimmung und Selbstorganisation verwirklichen zu können. Träum weiter, denke ich mir, Inklusion und Kooperation werden gerade auf dem Altar von Krieg und Kampf geopfert, wo der Vorteil des einen zum Nachteil des anderen missbraucht wird. Ich lese zur Beruhigung weiter über die historisch sozialstaatlichen Kompensationsgeschäfte zwischen Staat und Bürger.
Im Kriegssozialismus des Ersten Weltkrieges setzt sich erstmals die Idee eines intervenierenden, steuernden, planenden und leistenden Staates in den Köpfen der Bevölkerung fest. Reformen von oben, preußisch-deutsch. In der Weimarer Republik wurde der Sozialstaat noch einmal ausgebaut, geriet aber in der Wirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre unter Druck. Im Nationalsozialismus bildete sich schließlich ein sozialer Volksstaat heraus. Es bildete sich eine Art von Gefälligkeitsdiktatur mit groß angelegter Umverteilungspolitik unter der Knute eines völkisch-rassischen Sozialstaats. Ein neuer, aber furchtbarer Deal! Von oben nach unten deutschnational und unbegrenzt Wohltaten verteilen als Ursuppe. Motto: Inklusion für uns und nicht für die anderen. Es ging eben nicht mehr um die soziale Sicherung jedes einzelnen, sondern nur um die Gruppe der eigenen Volksgenossen und rassisch Verbündeten.
In den Sozialstaatsdebatten nach dem Zweiten Weltkrieg entstand als Gegenentwurf der soziale Wohlfahrtsstaat liberaler Prägung. Im internationalen Sprachgebrauch kam der Begriff welfare state ins Spiel – als „institutioneller Ausdruck der Übernahme einer legalen und damit formalen und ausdrücklichen Verantwortung einer Gesellschaft für das Wohlergehen ihrer Mitglieder in grundsätzlichen Belangen“. Fast alle Parteien in Deutschland erhöhten ihre sozialen Versprechen. Bis 1975 kann man von einer Blütezeit des Sozialstaats sprechen, egal unter welcher Regierung kam es sozialpolitisch immer wieder zu großen oder Allparteien-Koalitionen im Bundestag.
Dann beginnt sich der Wind zu drehen. Mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien gerät sozialstaatliches Denken erstmals international in die Defensive. In Deutschland bestimmt vor allem die durch Langzeitarbeitslosigkeit resultierende Armut den sozialpolitischen Problemhorizont (Mitte der 1980er Jahre mussten sich rund 30 Prozent der Arbeitslosenhaushalte mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze behelfen). Die kompensatorische Sozialstaatspolitik auf Basis politischer Verteilungsgerechtigkeit wird vom ökonomischen Wettbewerbs- und Marktprinzip zunehmend beeinträchtigt und zu verdrängen versucht. Mit dem Ideal der autonomen Person wird erstmals die Inszenierung des aktivierenden Sozialstaats unterfüttert. Der vormalige Untertan wird zum Souverän seiner selbst, der über soziale Kooperation und Interaktion gesellschaftliche Solidarität aufrechterhält.
Dann kommt das neue Jahrtausend. Ich erinnere mich an Anthony Giddens. Der englische Soziologe sprach vom Dritten Weg. Blick zurück: Im Verlauf des Jahres 1999 sendete der World Service der BBC eine Reihe von Hörfunkvorträgen. Deren Ziel war es, „einige der schwierigen Fragen zu beleuchten, die der Zustand der Welt am Ende des Jahrhunderts aufwirft“. Um diese Vorträge, die zuvor in London, Hongkong, Delhi und Washington aufgezeichnet wurden, gab es in der Folge ein heftiges Ballyhoo. Giddens brachte einen Dualismus ins Spiel, der 25 Jahre später den Totentanz der Globalisierung, wie ihn Trump, Putin & Co. gerade aufführen, vorwegnahm. „Auf den Schlachtfeldern des 21. Jahrhunderts werden sich Fundamentalismus und kosmopolitische Toleranz gegenüberstehen. In einer immer globaleren Welt, in der Informationen und Bilder selbstverständlich um die Welt gehen, kommt jeder von uns regelmäßig mit Menschen in Kontakt, die anders denken und leben als er. Kosmopoliten begrüßen diese kulturelle Vielfalt und erfreuen sich an ihr. Fundamentalisten empfinden sie als beunruhigend und gefährlich.“
Keine Frage, auf welcher Seite Giddens stand. Dahinter verbarg sich die Idee einer multipolaren Welt mit zahlreichen Möglichkeitsräumen und autonomen Einflusszonen für ihre Bürger. Jeder sollte sein „Wohlergehen im Sinne einer Verwirklichung selbst gesteckter Ziele aus eigener Kraft mehren“. Aushalten müsse man dabei nur, so Giddens, dass manche Zeitgenossen sich schneller und erfolgreicher entfalten. Dies wiederum schaffe zwar soziale und materielle Ungleichheit, könne aber in der Vielfalt der neuen Möglichkeiten und Chancen wieder abgemildert werden. Die Selbstverwirklichung des einzelnen und seine Lebenschancen blieben oberstes Gebot von Sozial- und Wirtschaftspolitik. Benachteiligt war Giddens zufolge deshalb jeder, der in seiner Freiheit beschnitten wird, seine Möglichkeiten vorteilhaft für sich zu nutzen. Soziale Exklusion nannte Giddens diesen Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen.
Ein Vierteljahrhundert später, und das hat Gustav Seibt neulich in der SZ herausgearbeitet, wächst „ein neues Zeitalter der Geopolitik im Modus ungefilterter Machtpolitik … Die Weltwirtschaft ist hier Krieg und Kampf, nicht Arbeitsteilung und Kooperation. Wirtschaftsraum wird Machtraum.“ Die Globalisierung verschwindet und mit ihr die ausbalancierte Autonomie von bedarfsorientierter, stärkender Lebensführung in persönlichen Selbstentfaltungsgebieten.
Die Macht des Stärkeren kehrt auch systemisch vehement zurück, prägt die geopolitische Versteifung auf große Imperien wie USA und China und vernebelt offenbar auf S-Bahnsteigen die Gehirne, die im neuen Entsolidarisierungsmodus hirnen. Die Schwächung des Sozialstaats ist nur eine Folge. Individualrechte und Minderheitenschutz werden als wokes Gefasel diskriminiert. Die Attraktivität unseres sozialstaatlichen Lebensgarantiemodells gerät in Schieflage.
Es ist klar: Die beiden unbekannten Diskursstifter auf dem S-Bahnsteig sind längst Teil einer wachsenden sozialstaatlichen Retrobewegung. Sie betrachten sich ihrerseits als Opfer sozialer Exklusion. Ausgegrenzt von der Inklusionsidee eines deutschnationalen Gefälligkeitssozialstaats. Flüchtlinge müssen in ihren Augen draußenbleiben. Das „Alles“ müsse zurückerobert werden. Ein Viertel der Wahlberechtigten hört bereits diese Signale und würde nächsten Sonntag AfD wählen.
Sorry, ich muss jetzt zur S-Bahn, die Kopfhörer lasse ich ab jetzt zuhause. Ich rede jetzt wieder mit den Spinnern.
Peter Felixberger, Montagsblock /318
07. April 2025