Montagsblock /317

Die Datenlage ist unklar. Man weiß nicht, was Wahrheit ist und was Lüge, was die wahre Wahrheit und was eine nützliche Lüge. Die Rede ist von dem Koalitionsvertrag für die allzu kleine Große Koalition, den es noch nicht gibt. Es gibt nur durchgestochene Fragmente – und durchgestochene Fragmente tauchen nicht zufällig auf, sondern bedienen stets Interessen. Entweder suchen die Koalitionäre Unterstützung von außen, oder Interessengruppen versuchen, ihnen wichtige oder bedrohliche Inhalte von vorneherein zu positionieren oder zu verbrennen. Man könnte sagen: also business as usual.

Was man freilich so hört, wird darüber verhandelt, mehr gegen Fake-News, gegen Lügen, falsche Tatsachenbehauptungen und Fehldarstellungen in der öffentlichen Kommunikation zu tun – vor allem, aber nicht nur im Netz. Die BILD-Zeitung lässt sich damit zitieren, in einem Papier der Arbeitsgruppe „Kultur und Medien“ werde argumentiert, „die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ werde nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt und müsse, vor allem: könne auch unterbunden werden. Nun weiß man nicht, ob die Behauptung, dass das in einem solchen Papier steht, selbst eine richtige oder falsche Tatsachenbehauptung ist, denn, wie gesagt, die Datenlage ist unklar.

Nehmen wir einmal an, es sei eine richtige Tatsachenbehauptung, dann handeln sich die Verhandler ein erhebliches Problem ein. Sie müssten objektivieren können, was eine richtige und was eine falsche Tatsachenbehauptung ist. Selbst für diejenige Instanz in der Gesellschaft, von der man wahrheitsfähige und wahrheitsförmige Tatsachenaussagen erwartet, wäre nicht in der Lage, das stets eindeutig zu qualifizieren, die Wissenschaft nämlich. Wissenschaft wird gerne nachgesagt, sie könne evidenzbasierte Aussagen machen – dabei beginnt Wissenschaft stets damit, eine allzu sichere Evidenz zu bestreiten, um dann mit eigenen Methoden, selbsterhobenen Daten und auf der Basis selbsterzeugter Annahmen zu sagen, was der Fall ist.

Nun haben die Koalitionäre keineswegs epistemologische Fragen im Visier, wenn sie die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ unter Aufsicht stellen wollen. Die üblichen Verdächtigen wittern (und twittern!) schon so etwas wie eine Gesinnungspolizei oder eine Beschränkung der Meinungsfreiheit, vor allem wohl diejenigen, die sich mit ihren Hinweisen auf die US-amerikanischen free speech-Aktivisten der Gegenwart bis auf die Knochen blamiert haben. Wahrscheinlich hat auch schon jemand cancel culture gesagt.

Das Problem rechtlicher Regeln besteht darin, dass sie eine normative Erwartungssicherheit herstellen müssen. Zwar enthalten Gesetzestexte durchaus eine Auslegungsbandbreite. Es bedarf einiger hermeneutischer Fertigkeiten, um sie anwenden zu können. Aber eine gewisse Erwartungssicherheit muss gewährleistet sein. Und es ist schwer vorstellbar, wie man diese Erwartungssicherheit herstellen möchte, wenn tatsächlich eine Formulierung wie die oben genannte qualifizieren soll, ob etwas von der Meinungsfreiheit gedeckt ist oder nicht.

Am 14. Mai 2024 ist das „Gesetz über digitale Dienste“ in Kraft – es setzt den sogenannten Digital Service Act (DSA) der EU für die Bundesrepublik um. Der DSA verpflichtet Plattformen, dass sie gegen „illegale Inhalte im Netz vorgehen müssen und diese bei Kenntnis zügig entfernen müssen“.* Hier ist „Illegalität“ die entsprechende rechtliche Kategorie – aber falsche Tatsachenbehauptungen müssten als solche illegal sein, damit sie rechtlich relevant sein können: etwa Beleidigungen, üble Nachrede, Betrug, betrügerische Werbung, Hass, Hetze, Volksverhetzung, Vergehen gegen Persönlichkeitsrechte (etwa durch Deepfakes) usw. All diese Vergehen basieren auf Kommunikationsformen, die auch einen Sachanteil haben, aber es ist nicht der Sachanteil alleine, der das Justiziable daran ausmacht.

Nicht in jedem Fall kann man falsche Tatsachenbehauptungen in der Öffentlichkeit für justiziabel halten, nicht einmal bewusst vorgetragene. Man müsste dann wohl die Hälfte aller Wahlkämpfe oder auch Talkshows im Visier haben, von Sachauseinandersetzungen ganz zu schweigen. Man kann die bewusste Lüge für moralisch bedenklich, politisch gefährlich oder auch bedrohlich halten, aber sobald man beginnt, sie prinzipiell zu verfolgen, lässt sich nicht mehr kontrollieren, wo man damit aufhören kann/muss – zumal Tatsachenfeststellungen äußerst voraussetzungsreich sind. Das weiß man im Wissenschaftssystem ebenso wie bei Tatsachenfeststellungen in Gerichtsverfahren. In beiden Fällen versucht man methodisch kontrolliert zu belastbaren Sätzen zu kommen, durch wissenschaftliche Standards, im Gerichtsverfahren durch Verfahren verteilter Kommunikation, durch Hinzunahme von Sachverstand (sic!) und durch Entscheidungen. In allen anderen Fällen fällt die Tatsachenbehauptung mit der „Meinung“ zusammen.

Kant hat in der „Kritik der reinen Vernunft“ (B 850) drei Weisen des Fürwahrhaltens unterschieden. Er meinte, Wissen müsse sowohl subjektiv wie objektiv angemessen sein, Glaube sei nur subjektiv angemessen, und die bloße Meinung sei subjektiv wie objektiv unzureichend. Sie ist es übrigens, die gesetzlich geschützt wird, also gerade solche Formen, die in diesem Verständnis weder subjektiv noch objektiv (also: auf Tatsachen bezogen) zureichend sind. Die Meinungsfreiheit ist gewissermaßen eine Rehabilitation des Unzureichenden. Wenn Art. 5 GG betont, dass jeder das Recht hat, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild“ frei zu äußern, so lässt sich daraus keine Pflicht ableiten, jeder müsse seine Meinung über Tatsachen (also: Wissen) objektiv prüfen, um sie äußern zu können.

Eine moderne Gesellschaft muss in ihrer Pluralität, in der Differenziertheit ihrer Perspektiven und vor allem im Hinblick auf die prinzipielle Unsicherheit und Offenheit all ihrer Grundlagen auf eine solche Pflicht verzichten und mit dem Risiko des Unangemessenen und des Unzureichenden umgehen. Wie sehr sie dabei auf Bedingungen angewiesen ist, die am Ende unkontrollierbar sind, nicht reguliert werden können, nicht einzudämmen sind, stets gefahrvoll bleiben, immer schief gehen können, ist die andere Seite jener Versuche, das Absolute, das Eindeutige, den letzten Fluchtpunkt und eine wenigstens anzustrebende Sicherheit zu bestimmen, die man dem Nicht-Modernen (ob historisch oder systematisch) zurechnen könnte. Wären Tatsachen in der Weise kontrollierbar, wie es aus dem Koalitionspapierfragment heraustönt, wäre es eine stationäre Kultur, eine kristalline Form, eine Welt ohne Alternativen, die sich daraus ergeben würde. Im übrigen ist die Möglichkeit der Lüge ein Ausdruck innerer Unabhängigkeit und womöglich sogar ein Experimentierfeld jener Variationen, die evolutionäre Veränderungen ermöglichen. Denn was eine Lüge ist und was nur eine Abweichung, lässt sich nicht in jedem Falle klären. Wie sehr freilich zivilisiertes Verhalten davon abhängig ist, dass es zwischen der Innenwelt der Menschen und den sozialen Prozessen eine unaufhebbare Differenz geben muss, ist eine der Möglichkeitsbedingungen, in einer Welt zu leben, die nicht völlig durchreguliert ist.

Was die Koalitionäre mit ihrer Formulierung intendieren, lässt sich schon erschließen, und womöglich ist das Motiv ehrenwert. Nur durchführbar ist es nicht – und der Versuch könnte schon schädlich sein. Um so mehr muss man wahrscheinlich das Justiziable in den Vordergrund stellen und den Umweg über tatsächlich Illegales gehen – und dann auch durchsetzen. Aber vielleicht entspricht die zitierte Idee ja gar nicht den Tatsachen, denn, wie gesagt, die Datenlage ist unklar.

Armin Nassehi, Montagsblock /317

31. März 2025

* https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gesetz-ueber-digitale-dienste-2140944