Die Rede des amerikanische Vizepräsident auf der MSC für unsinnig, schlecht oder gar dumm zu halten, würde ihr nicht gerecht. Die Reaktionen reichen von schockierter Ablehnung bis hin zu einer affirmativen Selbststilisierung als Hofschranze am Hofe der neuen virilen Form politischer Führung. Manche Schranze nobilitiert den Redetext geradezu als intellektuelle Meisterleistung, gegen die das deutsche intellektuelle Mittelmaß keine Chance hätte. Übergriffig hat man den Text genannt, am Thema vorbei, unangemessen usw. Was hat man denn erwartet? Das ist der neue Stil des Politischen, der sich hier geradezu in Reinform gezeigt hat – auch auf einem Niveau, das den Populismus nicht mehr als dumpfe Reminiszenz an das Unvordenkliche kostümiert, sondern mit einer interessierten Freundlichkeit und Offenheit daherkommt, in einer Mischung aus Sorge, Selbstkritik und einem deutlichen Angebot.
Man kann, man muss diese Rede in ihrer politischen Dimension als einen deutlichen Anspruch der USA auf die alleinige Definitionsmacht Amerikas im Hinblick auf die transatlantischen “Werte” lesen, tatsächlich als eine gewaltsame Geste, die Kooperation an einen neuen Stil bindet. Man muss sie aber auch intellektuell ernst nehmen, denn es ist eine Rede, die ohne Zweifel an einigen wunden Punkten ansetzt, die man durch eine bloße Abwehr nicht einfach loswerden kann. Der wundeste Punkt, den Vance angesprochen hat, ist der Loyalitätsverlust in den westlichen Demokratien. Es gelingt dort immer weniger, Wählerinnen und Wähler an die Formen etablierter, zivilisierter politischer Konflikte zu binden, an eingeführte Konfliktlinien, wie sie die großen Mitte-Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien angeboten haben – auch mit der Fähigkeit, die latente Unzufriedenheit mit einer unübersichtlichen Gesellschaft erträglich zu machen.
Es waren letztlich die republikanischen Bindungen, die nicht einfach eine liberales Mehrheitsprinzip im Blick hatten, sondern ein gestaltetes, institutionalisiertes, wenn man so will vorentschiedenes Modell der Konfliktbildung, in dem der informierte, republikanische Bürger und die Bürgerin in der Lage sind, in einen politischen Raum eingelassen zu werden. Diese Loyalitäten sind stark in Mitleidenschaft gezogen – und Vance spielt geradezu kunstvoll aus, dass diese Form der institutionalisierten Konfliktlinien von den Menschen nun als Unfreiheit, als Unmöglichkeit der freien Rede, als Kontrolle, auch als Gängelung erlebt wird. Man muss tatsächlich ernst nehmen, dass diese Interpretation verfängt – fast alle Kritik an den “etablierten” Verhältnissen, an den “alten” Eliten kommt weniger als sachliche Kritik daher, sondern als das Gefühl, sich nicht frei äußern zu können.
Vance hat das ziemlich intelligent gerahmt: als Abkehr von den Grundfreiheiten, vor allem der Grundfreiheit, dass das Gemeinte nicht auf entgegenkommende Bedingungen trifft. Je weniger erwartbar Konfliktlinien sind, je eher Zweifel an Eliten besteht, je ungelöster und unlösbarer Problemlagen, desto weniger passen die “Meinungen” zu den Angeboten. Man muss es wirklich ernst nehmen, was Vance da präsentiert – vielleicht in dem Sinne, dass er ja Recht hat damit, dass ein Großteil der Wählerschaft bzw. der Wählerstimmen gewissermaßen aus dem demokratischen Prozess herausgerechnet werden muss, um zu legitimen politischen Konstellationen zu kommen. An dieser Beschreibung ist kaum etwas zu beanstanden – und vielleicht bestand ein Teil des Schocks darin, dass man das so direkt gesagt bekommt.
Der andere Teil des Schocks ist dann freilich tatsächlich schockierend. Denn Vance stellt die anschließende Frage nicht in dem Sinne, wie man jene Teile wieder zurückholen könnte in einen demokratischen Prozess des Ausbalancierens von Interessen, Auffassungen und Lösungsvorschlägen, sondern er hat letztlich die Ratlosigkeit der Europäer vorgeführt, wie man mit der Machterosion der eigenen Institutionen umgeht. Vance hat ihnen einen Spiegel vorgehalten – nicht um sie über ihre Situation aufzuklären, sondern sie in den Sog der MAGA-Machtgeste zu zwingen. Das Gerede von der “free speech” und einer wahren Demokratie, von Freiheit und Cancel Culture, von angeblichen Formen, die Menschen zum Schweigen zu bringen und von der Kritik an fake news, die er in die Nähe sowjetischer Wissenspolitik gerückt hat – all dieses Gerede ist nichts anderes als seine Lösung für die Erosion der Macht: das MAGA-Programm, das an der Okkupation der Exekutive ansetzt und den Verfahren, checks and balances und dem feinen Gewebe demokratischer Ausbalancierung von Kompromissen den Mittelfinger zeigt.
Gekleidet wird diese Staatspiraterie in eine vulgär demokratische Idee der Weisheit der Leute, letztlich einer reinen Apologie der Mehrheit und der Protegierung des eigentlichen Volkswillens – das ist die klassische Klaviatur des Populismus, der aus einer Position einer machtvollen elitären Position und einer radikalen Distanz zu den Massen diesen das Gefühl gibt, ihr Sprachrohr zu sein, mit popkulturellen und ästhetischen Mitteln, mit der Bedienung jeglichen Vorurteils und nicht zuletzt mit jener attraktiven Währung der Tat, die Handlungsfähigkeit nicht mit den guten Gründen eines Konzepts, sondern mit der Ästhetik eines Dezisionismus herstellen kann.
An Vance lässt sich schön studieren, warum die klassischen griechischen Quellen vor der Demokratie vor allem warnen – vor einer Demokratie als bloßer Exekution eines Mehrheitswillens, die davon lebt, dass man die unmittelbaren Gefühle und Interessen der Leute zu einem Ganzen aufrundet, das sich am Ende um die Balance nicht mehr kümmern muss.
Die Rede von Vance intellektuell ernst zu nehmen bedeutet: den eigenen Schock zu reflektieren. Denn er trifft tatsächlich wunde Punkte – die Unfähigkeit der politischen Akteure, Gefolgschaft durch Problemlösung oder wenigstens durch Kompetenzversprechen zu gewinnen. Denn das wäre die nötige Therapie – nicht die von Vance und Trump, sich die staatlichen Institutionen zur Beute zu machen und das Publikum mit einem Dezisionismus zu begeistern, der das ästhetische Gegenmodell zu jener Schwierigkeit ist, dass sich nachhaltige Veränderungen zwar disruptiv ankündigen lassen, sich die Wirkung aber nicht disruptiv einstellt. Politik wird eher zur Darstellungsform, und die scheint plausibler als jeglicher Sachaspekt, mit dem man sich kaum mehr beschäftigen muss. Sachaspekte werden zu jenen Bedenkenträgerformen, die die Leute in die Hände etwa der AfD treiben, mit denen zu koalieren Vance wie Musk sehr deutlich anempfehlen. Die hiesigen Hofschranzen bekommen dabei rote Bäckchen, weil ein schicker Amerikaner das frei sagen kann, was ihnen hier verwehrt wird. Was für ein Beweis der Thesen des Redners, werden sie denken!
Dass die Rede unter dem Eindruck des schrecklichen Mordes eines widerlichen afghanischen Islamisten, kaum mehr als 1000 Meter vom Tagungshotel entfernt, stattfindet, hätte man nicht besser erfinden können. Das Migrations- und Fluchtthema ist gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt all der populistischen Beutejäger – denn im Migrationsthema lässt sich alles andocken, worum es geht: es ist die angebliche Überfremdung, die die Hintergrundmusik für Vance’s Lobpreis des eigentlichen Volkswillens bildet; es ist ein Thema, das sich anders als abstraktere Probleme der Gesellschaft ostentativ ausstellen lässt; es hat eine soziale Komponente, Identitäten und Zugehörigkeiten zu markieren, es ist der Klassiker des Populismus schlechthin, weil sich in Migrationsfolgen der Verlust einer “Normalität” am besten beschreiben lässt.
Aber es ist noch mehr. Es ist nicht nur ein rhetorischer Trick von Vance, sondern tatsächlich eines der Themen, an denen Europa radikal gescheitert ist, weil es sich in vielerlei Hinsicht geradezu paralysiert dargestellt hat, die wachsende Radikalisierung einer bestimmten Teilklientel schlicht zu ignorieren – übrigens auch zum Nachteil millionenfach gut integrierter Einwanderer nach Deutschland. Ich hoffe, es wirkt nicht unbescheiden, wenn ich erwähne, schon seit 2015 immer wieder darauf hingewiesen zu haben, was sich da zusammenbraut – aber auch auf das Dilemma, dass sich die westliche Lebensform selbst ad absurdum führt, wenn sie angesichts solcher Entwicklungen ihre eigenen Standards missachtet. Sie missachtet sie, indem sie manche Fehlentwicklung schlicht leugnet; und sie missachtet sie, indem sie keine Individuen mehr kennt, sondern nur noch Exemplare problematischer Gruppen, die man loswerden muss.
Vance’s Rede war tatsächlich übergriffig und ein Angriff mit friendly fire. Sie war eine wohlkalkulierte Provokation, die klug an den Punkten ansetzt, an denen die meisten blank sind – die radikalen Kritiker ebenso wie die Hofschranzen. Nun kommt es darauf an, daraus Lehren zu ziehen. Die naheliegendste Lehre, diejenige, die Trump als Zentrum der populistischen Weltrevolution anempfiehlt, wäre der innere und äußere Protektionismus jener Helden der Tat, die alles schleifen, was die westliche Lebensform ausgemacht hat: die pluralistische Wechselseitigkeit konkurrierender Lösungen mit vielfältigen institutionalisierten Formen des Kompromisses, die Sicherung von Massenloyalität und Hilfe für jene, die im freien Spiel der Kräfte unter die Räder kommen. Es geht jetzt nur noch um eine Rhetorik der Unbedingtheit, der einfachen Lösungen und der manichäischen Gegenüberstellung von Alternativen ganz ohne Kompromissmöglichkeiten und inhaltliche Graustufen.
Was man von Vance’s Rede lernen kann, ist dies: Wir haben viel zu verlieren, was zu verteidigen wäre, insbesondere wenn man auf Verteidigung durch die USA nicht mehr wird hoffen können – mit Fragen der Verteidigung, auch mit dieser, beschäftigt sich übrigens das kommende Kursbuch.
Armin Nassehi, Montagsblock /311
17. Februar 2025