Montagsblock /267

Ist das ein gutes Thema für den Ostermontag? Beginnen wir doch so: „Wir sehen in den orthodox geprägten Ländern, wie wertvoll eine intakte, traditionelle Kirche für die politische Rechte ist.“ (S. 29) Dieser Satz stammt aus einem Buch des Spitzenkandidaten der AfD für die Europawahl.* Die Lektüre lohnt sich – jedenfalls habe ich das Buch gelesen, auch damit Sie das nicht tun müssen. Das zugegebenermaßen gut geschriebene (oder gut lektorierte) Buch besticht nicht durch neue Gedanken oder ungeahnte Zusammenhänge – aber gerade das ist nicht sein Mangel, sondern das ist es, was es zu einer lohnenden Lektüre macht. Der Autor führt hier in erfrischender Offenheit vor, worum es in einer „rechten“ Politik im Stile der AfD geht. Es ist ein Text, der nicht aus dem stupiden Stil von Parteiprogrammen oder politischen Ankündigungen besteht, sondern deutlich, klar strukturiert und ohne Umschweife die Programmatik dieses politischen Denkstils auf den Begriff bringt.

Man konnte der AfD noch nie vorwerfen, dass sie ihre Ideen kaschiert, dass sie verdecken möchte, wofür sie steht, oder dass sie sich fremde Mäntel überwirft, damit man die Konturen nicht sehen kann. Die AfD ist in diesem Sinne vielleicht die ehrlichste Partei der deutschen Parteienlandschaft. In Gestalt dieses Textes wird sehr deutlich, was eine in diesem Sinne „rechte“ Denkungsart beinhaltet – und es wird auch deutlich, dass hier der Abstand zu allen anderen politischen Alternativen erheblich ist. Die AfD-Programmatik ist nicht einfach etwas konservativer als Konservative. Sie ist wirklich anders. Und sie zielt kritisch auf jenen Bestand, der für Konservative womöglich noch so etwas wie ein Anker gegen die angebliche völlige Beliebigkeit der Moderne ist. Das Eingangszitat etwa richtet sich explizit gegen jene Konfessionen, die einmal das Bollwerk einer konservativen Lebensweise waren. Eine „intakte, traditionelle Kirche“ ist nämlich für den Autor eine solche, die so etwas wie natürliche Gemeinschaften erzeugt.

Und damit ist der Ton gesetzt. Der Autor begründet rechte Politik als eine Politik, die auf eine fundamentale Weise Identitätspolitik ist: „Eine identitäre Rechte muß am Volk als auch politisch relevanter Identitätsebene festhalten, will sie den Einzelnen nicht sich selbst überlassen, und das hieße: aufgeben. Denn in den sich verschärfenden Verteilungskämpfen hat der Einzelne nur eine Chance als Teil einer Gemeinschaft.“ (S. 55) Den letzten Satz hätte vielleicht auch ein Linker sagen können – und in einem interessanten Dreh verteidigt der Autor Marx gegen jene, die man fälschlicherweise „Kulturmarxisten“ nennt. Die sozialistischen Marxisten hätten einen Sensus dafür, dass „das Kapital … [eine] neue Liebe zur Wokeness“ (S. 27) habe, die alles Identitäre auflöst, während sozialistische Marxisten das Solidaritätsproblem wenigstens im Sinn hätten – weswegen diese noch eher Partner für die Rechten sein könnten als die „Bügerlichen“ und die „Kulturmarxisten“.

Nun begründet der Autor kein neues Hufeisen, sondern will auf dieser Basis erst recht die Solidaritätsquelle bestimmen – und das ist das Zentrum seines rechten Manifests. Denn es geht um eine „Identität“ im Sinne einer „Übereinstimmung mit dem, was wir sind“ (S. 35). Das ist natürlich eine Reverenz an den Stammvater der modernen Rechten, nämlich den Antiliberalen Armin Mohler, der so eingängig sagte, die größte Sünde der Liberalen sei, dass sie die Menschen danach beurteilen, was sie sagen, und nicht danach, was sie sind. Das Zentrum des Gedankens liegt genau hier: Es geht darum, weniger zu sagen, sondern zu wissen, wer man sei. Das gewährleistet, wie schon zitiert, das Volk, ohne das das Individuum sich selbst überlassen und damit aufgegeben wäre. Solche Gemeinschaft müsse stabil sein, eine „Gemeinsamkeit im Denken, Fühlen, Wissen, in der Verortung und Verwurzelung“ (S. 55).

Die Würde dieses Gemeinsamen wird erkauft durch die Aufgabe der allgemeinen Menschenwürde. Es heißt: „Die politische Rechte kommt daher nicht umhin, eine eigene Anthropologie vorzulegen, will sie mehr tun, als sich dem liberalen Verständnis der Menschenwürde unterzuordnen.“ (S. 99) Das liberale Verständnis der Menschenwürde setzt tatsächlich an der gedachten, also philosophisch begründeten regulativen Idee der Ununterscheidbarkeit des Menschlichen an allen Menschen in ihrer empirischen Unterschiedlichkeit an. Das ist gewissermaßen die universalistische Denkfigur, die sich gar nicht auf einen empirischen Zustand bezieht, sondern als Rechts- und Denkfigur subjektive Rechte ermöglicht und gar nicht die Gleichheit, aber die Gleichberechtigung aller Menschen als Menschen garantiert – und daran natürlich empirisch scheitert, aber zumindest diesen Horizont hat.

Diesen Horizont kappt diese Anthropologie nicht empirisch mit dem Hinweis, die Menschen lebten nun einmal in historisch gewachsenen Zusammenhängen, weswegen Menschen- und Bürgerrechte stets in Spannung zueinander stehen. Diese Anthropologie kappt diesen Horizont gewissermaßen metaphysisch, durch Setzung eines deutlichen Seinsstatus: es geht dann um eine „nichtliberale Gerechtigkeit, die mehr ist als ein Verteilungsmechanismus zwischen freiem Einzelnen und gebundenem Staat“. (S. 99) Man hätte diesen Gedanken irgendwie hegelianisch weiterdenken können in dem Sinne, dass hier nicht von einem Staat als bürgerlicher Gesellschaft die Rede ist, sondern vom Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ in seiner politischen Verfasstheit, wie es in Hegels Staatsphilosophie heißt. Aber genau diesen Weg nimmt der Autor nicht, sondern naturalisiert den Gedanken der Zugehörigkeit, indem es um partikulare „Verwurzelung“ geht, die mit einem ethnischen, einem völkischen Volksbegriff einhergeht, der als letzte Bezugsgröße dient – und der allein dann Freiheitsrechte garantieren kann, die den anderen nicht nur nicht zukommen, sondern auch nicht zukommen können, will er gewissermaßen seine anthropologische Bestimmung nicht verfehlen.

Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Konzepte keineswegs nur etwas konservativer sind, etwas migrationskritischer oder etwas mehr an einer traditionell verfassten eigenen Identität orientiert. Es handelt sich genau besehen tatsächlich um Konzepte, die einen Bruch mit einem demokratischen Grundcomment und mit der Verfassung darstellen – denn Zugehörigkeiten werden in derselben Weise völkisch beschrieben, wie wir es bereits aus sehr extremen Traditionen kennen. Es geht nicht um eine mehr oder weniger strenge Analyse von Migrationsfolgen, sondern um einen Paradigmenwechsel, der Migration für eine per se unnatürliche Erscheinung hält. Es geht genau genommen darum, dass die Form des Gemeinschaftlichen nicht ausgehandelt wird, sondern immer schon da ist. Es geht am Ende darum, dass man so etwas wie Abweichungen und Pluralismus schon dadurch delegitimieren kann, dass es ja nicht darum geht, was man sagt, sondern wer man ist.

Welche Konsequenzen das dann hätte, wie man mit Abweichungen umgeht, die trotzdem vorkommen, mit denen, die sich der identitären Form nicht fügen, kann man sich vorstellen. Es wäre, selbst wenn der Autor des Manifests das gar nicht intentional im Sinn hätte, eine ziemlich einfache Vorstellung einer autoritären Form der Herrschaft, die Abweichung, Deliberation, Individualität, sogar Konflikte unterbinden müsste. Es wäre eine, die am Ende erstarren müsste in der Möglichkeit, zu sein, was man ist – eben identitär.

Die Lektüre, die auf den ersten Blick recht gefällig daherkommt, lässt tatsächlich in Abgründe blicken – es ist nicht einfach eine migrationskritischere Variante des Konservativen, sondern die Grundlegung einer extrem illiberalen Demokratie, es ist tatsächlich ein rechtsextremes Manifest. Und das sollte man zur Kenntnis nehmen. Zumindest muss man Wählerinnen und Wählern der AfD ins Stammbuch schreiben, dass sie sehr genau wissen können, wen und was sie da wählen. Deshalb sollte man solche Bücher auch lesen, zur Kenntnis nehmen, was diese Leute sagen. Denn am Ende lässt sich nur aus dem, was jemand sagt, deduzieren, wer er ist. Hier jedenfalls wird das überdeutlich.

Und wer nun meint, in diesem Montagsblock stehe nichts, was man nicht schon wissen konnte, dem muss ich sagen: Das war die These.

Übrigens: Ostern ist in der russisch-orthodoxen Kirche, die der Autor wohl meint und die noch „intakt“ ist und deshalb mit dem Machthaber im Kreml gut zurechtkommt, erst am 5. Mai.

Armin Nassehi, Montagsblock /267

01. April 2024

* Maximilian Krah: Politik von rechts. Ein Manifest, Schnellroda 2023 (Alle Zitate aus diesem Buch, die Seitenzahlen in den Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.)