Montagsblock /323

In der letzten Woche wurde ein neuer Papst gewählt. Robert Francis Prevost, ein US-amerikanischer Ordensmann des Augustiner-Ordens, der zuvor vor allem in Peru und im Vatikan gewirkt hat, trat nach dem Konklave auf den berühmten Balkon auf dem Petersplatz und sprach nunmehr als Papst Leo XIV. ein Ave Maria. Rezipiert wird er als gemäßigter Reformer wie sein Vorgänger, als US-Amerikaner als Antipode zu Trump, als Seelsorger, der sich für Migrationsfragen interessiert, als ehemaliger Chefpersonaler des Vatikans, den seine Kardinalskollegen gut kennen, als eine Stimme für die Armen und als jemand, der nun zwar die caesaropapistische Position eines Kirchenfürsten bekleidet, zugleich aber eine arme Kirche für die Armen propagiert. In sozialen Fragen und im Hinblick auf Führungsfragen gilt er als modern, in einigen innerkirchlichen Fragen, etwa was die Rolle von Frauen in der Kirche angeht, als konservativ.

Viele werden dieses Geschehen als ein anachronistisches ansehen – der Papst wird nicht mehr gebraucht, um Königtum und Kaisertum zu nobilitieren, die Kirche ist in vielen Ländern in der Krise, ihre Reputation hat vor allem aufgrund der Missbrauchspandemie gelitten, und als alltagsrelevante moralische Instanz ist sie abgelöst durch andere Legitimationen für konkrete Lebensformen. Der Zugriff kirchlicher Moral und katechetischer Weltauslegung auf konkrete Leben ist, zwar regional unterschiedlich, aber doch fast überall vergleichsweise gering geworden.

Und doch ist die Aufmerksamkeit enorm – und es scheint mehr zu sein als eine bloß mediale Inszenierung, die attraktive Fernsehbilder erzeugt und der ganz offensichtlich Autorität zugesprochen wird. Tatsächlich weiß die „Welt“ nichts über den neuen Papst, bis er auf den Balkon tritt und angekündigt wird. Prevost/Leo stand lange auf dem Balkon, sichtlich mitgenommen und emotional unter Hochspannung. In dieser kurzen Zeit wurden schnell Informationen in Datenbanken gesammelt, damit die Kommentatoren schnell sprechfähig wurden, und jede Äußerung, jede Geste, jedes Wort, jede Abweichung von den Vorgängern, die Herkunft, schlicht alles wird nun danach befragt, was es bedeutet. Es ist ohne Zweifel ein Spektakel wie aus einer anderen Welt – aber es ist zugleich ein Weltereignis im jetzigen politischen Machtgefüge der Welt.

Wie selbstverständlich werden Erwartungen und Befürchtungen formuliert. Als man hörte, es sei ein Amerikaner, ploppte die Befürchtung hoch, der Trumpismus habe sich sogar den heiligen Stuhl einverleibt. Als man hörte, welcher Amerikaner es ist, wurde wie selbstverständlich das Antipodische zum Trumpismus betont – und in der Tat hat Prevost nur wenige Tage vor seiner Wahl in einem Tweet den amerikanischen Vizepräsidenten mit den Worten zurechtgewiesen: „Jesus doesn’t ask us to rank our love for others.“ Der so ostentative katholische Konvertit Vance hatte zuvor von einem „christlichen Konzept“ gesprochen, man liebe zunächst die eigene Familie, dann die Nachbarn, schließlich die Angehörigen des eigenen Landes und dann („then after that“) erst den Rest der Welt. Politisch war das auf Migrationsfragen gemünzt.

Seit seiner Wahl wird diese Haltung des Papstes hervorgehoben und international diskutiert – und es gilt inzwischen als ausgemacht, dass alles darauf hindeutet, dass hier eine Autorität angenommen wird, die die autoritären Fantasien des Trumpismus in die Schranken weisen will. Ohne viel zu tun, wird dem Papst diese Autorität zugeschrieben, und die Zuschreibung ist tatsächlich die Quelle dieser Autorität.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte Winston Churchill vorgeschlagen, den Papst, damals Pius XII., als eine Art Vermittler zu gewinnen, um den Krieg in Europa beenden zu können. Darauf entgegnete Stalin bekanntlich mit der legendären Frage, wie viele Divisionen der Papst habe. Die Frage stellt sich wieder: Offensichtlich hat der Papst keine Divisionen, keine unmittelbaren Machtmittel, nicht einmal Verfügungsmacht über seltene Erden oder andere Rohstoffe, keine strategisch wirksame Meerenge oder so etwas. Nicht einmal direkte Zugriffsmacht auf die Gläubigen hat die Papstkirche mehr. Nicht einmal so etwas wie einen Kulturkampf wie zu Bismarcks Zeiten könnte man heute mehr anzetteln, bei dem die Frage inszeniert wurde, ob Katholiken aufgrund ihrer Loyalitätspflichten der Kirche gegenüber gute preußische Staatsbürger sein können.

All das gibt es nicht mehr – und doch ist der Papst auf dem Petersplatz, einen Friedengruß sprechend, ein Ave Maria rezitierend und den päpstlichen Segen „Urbi et Orbi“ spendend, ein weltweiter Zurechnungspunkt, nicht nur für innerreligiös-liturgische Fragen, sondern für aktuelle politische Machtkonstellationen vor allem geostrategischer Natur. Ironischerweise wird ihm in Zeiten neuer autoritärer politischer Versuchungen ein Optieren für eher demokratischen Pluralismus und für die Rechte der „anderen“ zugesprochen – etwas, das sich historisch auch gegen kirchliche Autoritäten erst durchsetzen musste.

Ich will das Argument nicht überstrapazieren, aber es ist schon frappierend, welche Aufmerksamkeit und welche Zurechnungsfähigkeit der Papst bekommt, der ja tatsächlich über keine Divisionen verfügt. Man kann seine Sprecherposition wohl nur verstehen, wenn man ihre politische Dimension religiös versteht. Es muss offensichtlich Erwartungsformen geben, die einem religiösen Sprecher ganz unabhängig von konkretem Glaubenserleben oder kirchlich-rituellen Bindungen eine Sprecherposition zuweist, die mit einer besonderen Potenz ausgestattet ist. Religiöse Rede, gerade in der Moderne, unterscheidet sich von anderen Redeweisen dadurch, dass sie anders zugerechnet wird, dass sie Themen ansprechen kann, deren Dringlichkeit und deren Gehalt indirekt funktioniert. Wenn der Papst politische Sätze sagt oder Sätze, die von anderen politisch verstanden werden, dann zehren diese Sätze von ihrer indirekten Direktheit. Die religiöse Rede kann thematisieren, ohne zu thematisieren. Und man kann ihr viel schwerer widersprechen, denn religiöse, oder schwächer: religoide Sätze werden anders kritisiert als rein politische.

Es war sicher kein Zufall, dass die wohl eindringlichsten Widerworte, die Trump nach seiner Wahl erhalten hat, von der Bischöfin der Episcopal-Diözese Washington, Mariann Edgar Budde, stammten. Natürlich hat Trump schon viel Widerspruch erfahren, und dieser Widerspruch wurde viel drastischer vorgetragen. Aber diesem konnte er nicht entkommen, weil es eine liturgische Situation war. Er konnte weder aufstehen und gehen, noch konnte er in der Situation dagegenreden. Es blieb selbst ihm kaum etwas anderes übrig, als die Dinge anzuhören und erst danach zu kritisieren. Der Situation selbst war nicht zu entkommen – und man sollte sich davor hüten, das religiös oder gar theologisch zu erklären. Aber religionssoziologisch könnte man es versuchen: Das Religiöse scheint heute wohl vor allem als eine Kommunikationsform aufzutreten, deren Kraft darin besteht, dass ihr mehr zugerechnet wird, als sie sagen kann, und die mehr sagen kann als das, was sich politisch kritisieren lässt.

Das gilt natürlich nicht für jede religiöse Rede – aber dass es so etwas wie einen religiösen Erwartungsstil auch dort gibt, wo womöglich kein einziger religiöser Mensch anwesend ist, lässt sich kaum leugnen. Und dass auch die religiös Unmusikalischen, wie Max Weber sie genannt hat, ziemlich genau wissen, was die religiöse Rede von der nicht-religiösen unterscheidet, ebenso wenig. Deshalb ist das Spektakel der Papstwahl eben mehr als ein Spektakel – und man muss nicht katholisch oder gläubig sein, um zumindest die Zurechnungsform zu bemerken, auch wenn man sie kritisiert, denn dafür muss sie schon wirksam sein.

Das heißt: Vielleicht bräuchte es eine Soziologie des Heiligen Geistes, um dieses Phänomen zu verstehen, wenn man darunter jene Form versteht, die sich gewissermaßen selbst ausbreitet. Wohlgemerkt, das ist keine religiöse Diagnose, sondern eine religionssoziologische: der soziologisch verstandene Heilige Geist zeigt sich darin, dass man die religiöse Rede als solche entschlüsseln kann, auch wenn man keinerlei religiöse Intentionen oder Empfindungen hat. Anders kann man die Zurechnungserwartungen an einen neuen Papst nicht verstehen – und anders würde es auch nicht als jenes Medienspektakel taugen, das es auch, aber eben nicht nur ist.

Zur Vorsicht: Das hier vorgetragene Argument ist nicht daran gebunden, dass man diesem Papst vielleicht partiell wünschenswerte Intentionen unterstellt. Das Argument hätte auch gegolten, wenn ein wahrer Trumpist gewählt worden wäre, denn auch dessen Sätze würden von dieser Kraft zehren. Am Ende zu behaupten, dass dies nicht geschehen ist, nun dem Heiligen Geist selbst zuzurechnen, wäre dann keine soziologische Aussage mehr, sondern eine theologische oder gar religiöse. Und so weit wollen wir nicht gehen.

Übrigens geht gerade das Kursbuch 222 in Druck – es beschäftigt sich mit Autoritärem und Autoritäten – wäre die Papstwahl früher gewesen, hätte diese als ein einträgliches Thema für dieses Kursbuch getaugt.

Armin Nassehi, Montagsblock /323

12. Mai 2025