Heute erscheint ein bemerkenswertes Buch. Geschrieben von einer jungen Neurowissenschaftlerin, die eine neue Disziplin begründen möchte: die politische Neurobiologie. Leor Zmigrod begann vor einigen Jahren als Neurobiologin, kognitive und neurologische Methoden anzuwenden, um die Auswirkungen von ideologischem Denken zu erforschen. Als politische Neurobiologin, wie sie sich selbst bezeichnet, wollte sie erforschen, ob sich das menschliche Bewusstsein grundlegend verändert, wenn es einer dogmatischen Ideologie anhängt. Zmigrod ist aber mehr als Nur-Neurobiologin, sie ist gleichermaßen Gehirnscan-Forscherin, Humanistin, Ideologiekritikerin, Metaphernjägerin und Sinnstifterin. Und sagt: „Dieses Buch verknüpft Neurowissenschaft, Politik und Philosophie, um besser zu verstehen, was es heißt, als Mensch in einem Meer von Dogmen zu treiben und sich im Sturm der Orthodoxien über Wasser zu halten.“
Die politische Neurobiologie versucht jene Muster von Ideologien aufzuspüren, die im Innern des Gehirns Spuren hinterlassen und die neuronalen Prozesse verändern. Ihr Buch will entlarven, entschlüsseln, Versuchsanordnungen bauen, flexibel denken und rigidem Denken vorbeugen. Die wissenschaftlichen Leitfragen sind zielgerichtet: Worin unterscheidet sich das Gehirn einer autoritären Person von einem Befürworter von Gleichheit, das Gehirn einer moderaten Persönlichkeit von einem Fundamentalisten?
Der Determinismus, sagt Zmigrod, ist der Kern aller Ideologien und der Gegenspieler des freien Willens. Ideologien seien absolutistische Erzählungen über die Welt. Sie gebieten, wie wir denken, handeln und mit anderen umgehen sollen. Sie legen fest, was erlaubt und was verboten ist. Mit der Folge: Unterordnung ist verpflichtend, Nonkonformismus wird nicht geduldet. Im Mittelpunkt steht das Gehirn. Es lernt von seiner Umwelt und versucht möglichst energieeffizient, die Zukunft vorherzusagen. Wie beim Wetterbericht: Mit Mustern aus der Vergangenheit die Zukunft zu antizipieren. Das Gehirn erzeugt das interne Modell der Welt, das nach Alleinvertretung strebe. „Die kommunikativen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns verdichten sich zu dem Wunsch, beachtet zu werden. Sich zu Hause zu fühlen. Sich zugehörig zu fühlen. Zu fühlen, dass unser Leben einen Sinn hat, dass wir wichtig sind.“
Zu verstehen, wie die Welt funktioniert, braucht folglich Kommunikation, um von anderen verstanden zu werden. „Ideologien sind Antworten des Gehirns auf das Problem der Vorhersage und Kommunikation.“ Und Ideologien sind Abkürzungen, die Komplexität der Welt einfacher und schneller verstehen zu können. Am banalsten ist es, dabei zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ohne jede Schattierung. Sehr naheliegend ist, diesbezüglich das Leben als Kampf zwischen Gruppen zu verstehen – zwischen Nationen, Geschlechtern, Ethnien oder zwischen Natur und Mensch. Herum gebaut werden in der Regel rigide Glaubens- und Moralsysteme, die unverrückbar sind. Es gibt kein Außen und keine Alternative.
Überzeugte Ideologen weisen klare Gemeinsamkeiten auf: „Verehrung von Autorität, Konformismus, Unterdrückung von Zweifeln und Individualität.“ Das Leben unterliege Vorgaben und strengen Regeln. Sie würden zur Gewohnheit, was Konsequenzen habe. „Unser Körper verändert sich dadurch … Je öfter wir eine Gewohnheit wiederholen, desto rigider wird sie. Je leidenschaftlicher wir eine Gewohnheit wiederholen, desto radikaler werden wir.“ Der neuronale Kreislauf verlagert sich weg von den höherbewussten Teilen hinter der Stirn (präfrontaler Cortex) hin zur Mitte des Schädels (dem Striatum).
Die politische Neurobiologie versucht jene Muster von Ideologien aufzuspüren, die im Innern des Gehirns Spuren hinterlassen und die neuronalen Prozesse verändern. Worin unterscheidet sich das Gehirn einer autoritären Person von einem Befürworter von Gleichheit, das Gehirn einer moderaten Persönlichkeit von einem Fundamentalisten? Der Determinismus ist der Kern aller Ideologien und der Gegenspieler des freien Willens. Im Gegensatz dazu steht die Kritik: Sie ist „eine Synthese aus zwei Stimmen. Die negativ kritische Stimme des Nörglers und Spielverderbers. Diese Stimme ist verknüpft mit der des positiven kritischen Denkers, der eigenständig reflektiert, der die oberflächliche Erscheinung und dominante Perspektive in Frage stellt.“ Neubewertung und Dialog kennzeichnen den Fortschritt der Menschheit. Es geht um Mut haben und vom Skript abweichen dürfen.
Das Buch in einem Satz: Als politische Neurobiologin spürt die Autorin verdächtige Muster von Ideologien auf, die im Innern des Gehirns Spuren hinterlassen und die neuronalen Prozesse verändern, gleichzeitig fördert die Autorin auf zur großen Freiheit, anders zu denken und die Ambiguität des Lebens zu feiern, damit wir alle den Mut haben, vom Skript abzuweichen und jeden Determinismus in Frage zu stellen.
Dies ist ein Textauszug aus meiner neuen Buchkolumne LEGO. Lesen Sie die ausführliche Buchrezension im neuen Kursbuch 222: gewaltig autoritär, das am 4. Juni erscheinen wird.
Peter Felixberger, Montagsblock /324
19. Mai 2025
Leor Zmigrod: Das ideologische Gehirn. Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen. 302 Seiten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025