Unterschiedlicher Auffassung zu sein ist das Elixier des Politischen. Politik programmiert sich selbst in Form von Rede und Gegenrede, in Form von Macht und Kritik der Macht, in Form von ideologischen oder programmatischen Differenzen. Die Sehnsucht nach Einheit oder Konsens oder vollständigem Einvernehmen ist politisch naiv – allenfalls der Kompromiss ist möglich, und der ist kein Medium der Einheit, sondern der Differenz, denn ohne Differenz müsste man keine Kompromisse eingehen.
Insofern sind Sätze, die von allen politischen Spielern gleichermaßen vertreten werden, nicht nur selten, sondern könnten auch darauf hinweisen, dass sie auf politische Defizite verweisen – zumindest würde das interne Abweichungspotential des politischen Systems so nicht genutzt. Einer dieser Sätze lautet, dass Bürokratie abgebaut werden müsse – nicht ganz so simpel, aber das ist der Satz, auf den sich alle einigen zu können scheinen. Es wäre deshalb einen Versuch wert, ein Lob der Bürokratie zu formulieren.
Voilá: Bürokratie ist jenes eigentümliche kulturelle Versprechen, dass Komplexität beherrschbar wird, wenn man sie in Formen, Verfahren und Prozessstrukturen gießt. Was so trocken klingt, hat allerdings eine ungeheure kulturelle Eleganz. Bürokratie verwandelt Unentscheidbarkeit in Verfahren, und die Verfahren wiederum erzeugen die Illusion, dass Entscheidungen aus ihnen herausfallen wie logische Konsequenzen. Man muss das nicht schön finden, aber man darf es für intelligent halten. Und vielleicht sogar für die realistischste Form gesellschaftlicher Stabilisierung, die die Moderne hervorgebracht hat.
Es ist ja nicht die Entscheidung selbst, die in der Bürokratie zählt, sondern dass sie zustande gekommen ist. Die Frage „wie sind wir zu diesem Ergebnis gelangt?“ wird funktional wichtiger als „war es richtig?“. Manche halten das für Zynismus – ich würde eher sagen: Das ist eine zivilisierte Form von Komplexitätsschutz. Die Alternative wäre Willkür, und Willkür hält Ordnungen nicht lange stabil. Und seien wir ehrlich: Selbst die spontanen Entscheidungen, die wir privat für frei halten, folgen oft Programmen, die wir gar nicht selbst entworfen haben. Vielleicht ist Bürokratie nur die transparente Version dessen.
Dass Bürokratie langsam erscheint, ist auch eine zu einfache Interpretation. Langsam ist sie nur im Verhältnis zu Erwartungen. In Wahrheit ist Bürokratie ein zeitliches Ausgleichssystem – sie schützt davor, dass Entscheidungen zu schnell getroffen werden und dadurch irreversible Fehler produzieren. Die Wartezeit im Amt ist also nicht Zeitverschwendung – sie ist ein Risikoabschirmungsprozess. Auch wenn diese Erkenntnis selten Euphorie auslöst.
Interessant ist, dass Bürokratie permanent den Verdacht nährt, sie sei selbstreferentiell: Sie produziert Regeln über Regeln, Formulare über Formulare, Ausnahmen über Ausnahmen. Aber genau darin liegt ihre eigentliche demokratische Leistung: Sie macht Macht prozedural. Sie entpsychologisiert Autorität. Der Sachbearbeiter muss nicht charismatisch sein, um entscheiden zu können – er sollte es auch nicht sein. Er muss nur das Verfahren kennen. Bürokratie ist die Organisationsform, mit der verhindert wird, dass persönliche Launen politische Folgen haben.
Und trotzdem ist es plausibel, sich über Bürokratie zu beschweren. Wahrscheinlich, weil sie uns daran erinnert, dass man nicht einfach mit Wünschen regieren kann. Und weil es manchmal schmerzhaft ist einzusehen, dass unsere individuelle Dringlichkeit nicht automatisch eine gesellschaftliche Priorität besitzt. Bürokratie hat die unhöfliche Eigenschaft, uns auf die Tatsache hinzuweisen, dass wir nur ein Fall unter vielen sind.
Bürokratie will sicherstellen, dass Ordnung nicht chaotisch, sondern regelbasiert hergestellt wird. Und dass diese Regelbasierung nicht Ausdruck von Fantasielosigkeit, sondern von institutioneller Klugheit ist. Bürokratie ist keine romantische Form gesellschaftlicher Organisation. Aber sie ist eine erstaunlich effiziente Methode, Entscheidungen nachvollziehbar zu machen, ohne sie an Personen zu knüpfen. Sie erzeugt Realität durch Verfahren. Und das ist viel weniger langweilig, als es aussieht. Denn in einer Welt, in der jeder alles sofort will, hat die Bürokratie eine fast subversive Pointe: Sie stabilisiert die Zukunft, indem sie die Gegenwart verlangsamt.
Ist der Versuch eines Lobs der Bürokratie gelungen? Ich finde schon, auch wenn man natürlich konzedieren muss, dass dies ebenso einseitig ist wie die Forderung nach Bürokratieabbau. Wir haben gerade das Kursbuch 224 fertiggestellt, das Anfang Dezember erscheinen wird. Es heißt „Zu viel, zu wenig“ und beschäftigt sich mit dem Maß, also damit, dass in einer Gesellschaft, die nicht alles festlegen kann, den einen die Dinge als „zu viel“ erscheinen, den anderen als „zu wenig“. So ähnlich ist es mit der Bürokratie. Das wäre auch ein schönes Thema für dieses Kursbuch gewesen. In einem solchen Beitrag hätte man dann nicht einfach für weniger Bürokratie geworben, sondern eher nach Regulierung und Normierung gefragt. Denn was jeder bürokratische Akt tut, ist nichts anderes als die Umsetzung und Anwendung rechtsförmiger Normierungen. Denn das macht ja die Komplexitätseinschränkung des Bürokratischen aus: die Überkomplexität der Welt in eine handhabbare Form zu bringen. Voraussetzung dafür ist die politisch induzierte Regulierungsdichte. Daran müsste man ansetzen – wie viel gesellschaftliche Eigendynamik nötig ist, um Abweichungsmöglichkeiten zu etablieren und dabei zu lernen, d.h. nicht normativ, sondern kognitiv auf Herausforderungen zu reagieren. Was spöttisch als die selbstreferentielle Hypertrophisierung der Bürokratie kritisiert wird, ist nämlich eher ein Ausdruck jener Komplexität der Gesellschaft, deren normative Lösungen oft aus mehr Ausnahmetatsbeständen besteht als aus typischen Fällen. All das will man dann kontrollieren, also: regulieren. Bürokratie ist dann Kontrolle und Kontrollillusion in einem.
Oft wird mehr Vertrauen angemahnt – in die Kreativität der Gesellschaft, in die Freiheit der Akteure, in die Selbstregulierung kompetenter Menschen. Dem kann man nur zustimmen, und gerade in einem überregulierten Land wie unserem täte das gut. Die Frage ist: Wie etabliert man Freiheit in einem System, dessen innere Varianz auf Entscheidungsprogramme festgelegt sind, die die Alternativen immer schon kennen? Und wie programmiert man Entscheidungsprogramme um? Setzt man das freilich politisch um, wird es zu neuen Regulierungen kommen müssen, zu einer Regulierung der Deregulierung, die dann bürokratisch bearbeitet werden muss.
Denn spätestens wenn Anspruchsteller und Rechteträger in einer Situation sind, in der sie ihre Ansprüche und Rechte geltend machen und durchsetzen wollen und sich nicht angemessen behandelt fühlen, werden sie, selbst wenn sie die extremsten Deregulierer und Bürokratiekritiker sind, darauf pochen, dass der bürokratische Apparat tut, wofür er da ist: ein Programm der Entscheidungsfindung abzuspulen.
Sieht man genau hin, könnte der Konsens über „zu viel“ Bürokratie womöglich nur dazu dienen, die Diskussion darum zu verdecken, Freiheit und Erwartungssicherheit zu versöhnen. Bürokratie ist nur das Symptom, die Krankheit ist die mangelnde Balance von Abweichung und Festlegung. Und eine intelligente Bürokratie könnte dann mehr sein als ein Symptom, vielleicht sogar das Heilmittel.
Armin Nassehi, Montagsblock /347
03. November 2025