Montagsblock /334

Sommerlochtiere sind bekanntlich Geschöpfe, deren Wesen sich aus ihrer Funktion speist, die dürre Nachrichtenlage während der Urlaubszeit zu füllen. Welse, die Dackel fressen. Raubkatzen, die sich schließlich als Wildschwein entpuppen. Elefanten, die aus Schwebebahnen springen. Mein heutiges Sommerlochtier ist demgegenüber auf den ersten Blick sehr viel unscheinbarer. Der Eindruck täuscht natürlich, das weiß jeder, der mit diesem Tier schonmal zu tun hatte. Und das werden immer mehr. Denn das Tier ist massiv auf dem Vormarsch.

 Die besonders treuen Leser des Montagsblocks erinnern sich vielleicht: Vor ziemlich genau zwei Jahren weilte ich in einem kleinen Haus im Wald und nahm das zum Anlass, über den Sinn und Unsinn der Zecken nachzudenken. Schon 2023 war als Jahr der Zecken betitelt worden – zu Unrecht, wie ich heute sagen würde. Denn was im aktuellen Jahr populationstechnisch los ist, stellt alles, was ich bisher erlebt habe, dramatisch in den Schatten. Ja, es ist Privatempirie, aber was für eine: Als ich neulich 24 Stunden in jenem Waldhaus weilte, und zwar ohne direkten, also haptischen Kontakt zum Wald an sich, kam ich auf der Terrasse mit gut zehn der kleinen Blutsauger in Kontakt. Es wirkte fast, als würden sie aus allen Richtungen gezielt auf mich zukrabbeln. Vielleicht, so fragte ich mich, hatte ich unter all den derzeit kursierenden Untergangsszenarien der Menschheit eine ganz naheliegende vergessen? Vielleicht wird nicht die KI uns vernichten oder eine unkontrollierbare Biowaffe oder der nächste Atomkrieg sondern die Invasion der Zecken, die es so wunderbar verstehen, von den unmöglichsten Stellen aus die fiesesten Viren und Bakterien in unseren Körper zu pumpen (wer den Roman “Blue Skies” gelesen hat, weiß, dass T. C. Boyle ganz ähnlich denkt).

 Natürlich fragte ich nach dieser traumatischen Erfahrung auch den mit biologischen Themen betreuten Kollegen aus meinem Team bei der ZEIT zu seiner Sicht der Lage. Fast etwas enttäuschend: Er ist da sehr viel entspannter und war nicht mal sicher, dass 2025 ein außergewöhnliches Zeckenjahr ist. Seine Recherchen brachten aber zwei andere interessante Informationen ans Licht: Erstens gibt es in Deutschland zu wenig Zeckenforscher. Und zweitens gab ihm einer der wenigen existierenden einen wertvollen Tipp: Niemals, niemals draußen pinkeln! Auch wenn letzteres mein Problem nicht löst (mich finden die Zecken auch, wenn ich nur ganz friedlich draußen sitze), ist es sicher im Sinne aller Wälder und Parkanlagen, wenn sich dieser Hinweis herumspricht.

 Jetzt fragen Sie sich sicher: Zeckenjahr 2025, schön und gut, aber warum “Sommerlochtier”? Die Antwort ist: Wir Kursbuch-Herausgeber befinden uns gerade in der ganz heißen Phase der Fertigstellung des nächsten Bandes 223 zur Künstlichen Intelligenz und den KI-Agenten. Und das Loch, das diese Tätigkeit in meinem zur Verfügung stehenden Schreibbudget schlägt, wird nun die Zecke füllen. Denn als ich nun den damaligen Text jetzt nochmal las, fühlte ich mich plötzlich doch ganz gut für den nächsten Urlaub mit den Blutsaugern gerüstet. Letztendlich kommt es ja neben dem Besitz einer Zeckenkarte oder Pineztte vor allem darauf an, dass man die richtigen Bücher dabei hat, um das Zusammentreffen mit den Viechern richtig einzuordnen. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Und deshalb schreibe ich jetzt keinen neuen Text über die Zecken, sondern mache, ganz Sommerloch-like ein “Resurfacing” des alten:

 Zecken gibt es besonders viele diesen Sommer, sagen die Nachbarn. Kleine schwarze und die größeren mit einem roten Rand und kringeligen Beinen. Die aus dem Süden eingewanderten, die das Krim-Kongo-Fieber übertragen, wurden offenbar noch nicht gesehen. Wozu sind Zecken eigentlich gut? Wozu sind Menschen gut, erwidert die Nachbarstochter. Vielleicht, um Zecken zu ernähren? Aber Zecken?

 Dem einzigen Nutzen, der mir für Zecken einfällt, bin ich vor vielen Jahren in der Philosophie des Geistes begegnet. Da waren sie unter dem Titel der “monorepräsentationalen Parasiten” Beispieltiere, um zu erklären, wie Erfahrungsqualitäten — sogenannte Qualia — funktionieren. Zu lesen war das beim amerikanischen Philosophen Fred Dretske. Der hat versucht, den menschlichen Geist naturalistisch, also auf der Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären. Die Eigenschaft mentaler Zustände, die sich gegen so eine nüchtern naturwissenschaftliche Erklärung am meisten zu sträuben scheint, sind die phänomenalen Erfahrungsqualitäten: Wie es sich anfühlt, eine rote Tomate zu sehen, einen guten Bordeaux zu trinken, eine zu heiße Kaffeetasse in der Hand zu halten. Diese Erfahrungsqualitäten erscheinen streng subjektiv. Ich weiß nur, wie der Bordeaux für mich schmeckt, nicht für mein Gegenüber. Vielleicht schmeckt er für den Mittrinkenden viel saurer als für mich? Im Prinzip könnte man sich sogar ein invertiertes Erfahrungsspektrum vorstellen: Dass für mich alle Weißweine wie Rotweine schmecken und umgekehrt, mir ist es nur nie aufgefallen – wie auch?

 So eine radikale Subjektivität kennen wir aus den möglichst objektiv operierenden Naturwissenschaften sonst nicht, und mit allem Qualitativen tun wir uns dort ebenfalls schwer. Für diejenigen, die das Mentale zu etwas Besonderem, zu etwas jenseits der Naturwissenschaften zu Erklärendes machen wollen, sind Qualia daher ein beliebtes Thema. Wenn Fred Dretske nun versucht, den menschlichen Geist zu naturalisieren, nutzt er dafür im Wesentlichen zwei Zutaten: Information und Funktion. Information braucht man, um mentale Zustände mit Inhalt zu füllen, und biologische Funktionen braucht man, um diesen Inhalt einzugrenzen. Was bestimmte neuronale Zustände bedeuten, ist damit unter anderem dadurch bestimmt, was sie anzeigen sollen. Fred Dretske nutzt in seinen Argumentationen, insbesondere in seinem Spätwerk, gerne Messinstrumente zur Veranschaulichung mentaler Zusammenhänge — oder sehr einfache Organismen. Und da sind wir dann wieder bei den Zecken.

 Die verlassen sich auf Beutesuche auf die Körpertemperatur ihrer potentiellen Opfer, und laut Dretske ist dafür das Kriterium, ob etwas 18 Grad warm ist. Wenn etwas in ihrer Umgebung durch ihren Wärmesinn derart repräsentiert wird, stürzen sie sich auf dieses etwas. Und wenn man sich nun in Analogie zu einem bekannten Gedankenexperiment von Thomas Nagel fragt, wie es sich anfühlt, eine Zecke zu sein, ist Dretskes Antwort: Dafür muss man nur wissen, was es heißt, eine Temperatur von 18 Grad zu haben. Denn nichts anderes ist der Erfahrungsinhalt der Zecke.

 Ich weiß noch, wie ich dieses Argument damals als Studentin gelesen habe, und mich aufregte, was für eine bizarre Vermischung verschiedener Ebenen hier vorliegt: Warum soll ich aus meinem Wissen, was es heißt eine Temperatur von 18 Grad zu haben, darauf schließen können, wie es sich für eine Zecke anfühlt ein Wirtstier im Fokus zu haben? Der entsprechende Text (Seite 89ff. in “Naturalisierung des Geistes”) ist mit einigen Fragezeichen und empörten Kommentaren meines damaligen Ichs gespickt (und ich kann mich durchaus noch erinnern, wie es sich anfühlte, die Mitte-20-jährige Version meiner Selbst bei Lesen dieses Textes zu sein). Interessanterweise fand ich ihn vergangene Woche in der zeckenumlagerten Holzhütte. Heute muss ich allerdings sagen: Angesichts der Fruchtlosigkeit der gesamten Qualia-Diskussion habe ich mittlerweile eine gewisse Sympathie für diese schnörkellos abmoderierenden Argumentation Dretskes. Vielleicht sind die subjektiven Erfahrungsqualitäten ja doch weniger mysteriös, als wir gerne glauben würden.

 Meine Sympathie für Zecken hält sich nach dieser Woche und wiederholten Begegnungen ohnehin sehr in Grenzen. Zumal meine abermalige Lektüre Dretskes mich auch noch in meiner Erinnerung korrigierte, dass Zecken als philosophische Beispieltiere nützlich sind. Denn in einer Fußnote zum Zeckenbeispiel gibt Dretske zu, dass seine monorepräsentationalen Parasiten nicht einmal vernünftig durch Zecken realisiert werden. Die repräsentieren nämlich nicht nur Wärme, sondern auch diffuses Licht und den Geruch von Buttersäure. Die Frage nach deren Nutzen bleibt also weiterhin offen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /334

28. Juli 2025