Heute, am Pfingstmontag, wende ich mich nicht nur an Sie/Euch, liebe Montagsblock-Leser und -innen, sondern auch an alle Autokraten, Autoritären und Autoritaristen. Menschen also, die entweder einen absoluten Autoritätsanspruch für sich reklamieren, oder Menschen, die unbedingten Gehorsam aufgrund autoritativer Selbstüberhöhung einfordern, oder Menschen, die den Ausnahmezustand suchen, um alternativlos zu regieren. Meine Ansprache an sie ist, das weiß ich, vermutlich wirkungslos, und findet deshalb auf einem sanften Höhenzug des Abstrakten statt.
Sit back, make yourself comfortable and relax!
Die moderne Gesellschaft ist multizentrisch angelegt. Das heißt, es gibt keine exklusive, sinnstiftende Instanz als exekutiven Flaschenhals aller Deutungen im sozialen Sinnstiftungsprozess. Jede Beobachtung ist nur eine unter vielen und wird schon wieder von anderen beobachtet, während sie beobachtet. Es ist entscheidend, von welcher Perspektive aus man die Gesellschaft betrachtet. Realität ist, wie in der Gesellschaft unterschiedlich beobachtet wird. „Andere Beobachter kommen, so kann beobachtet werden, zu anderen Beobachtungen des gleichen Gegenstandes.“
Eine moderne Gesellschaft zeichnet sich deshalb dadurch aus, dass erstens alles auch anders sein könnte (Kontingenz), zweitens sich „jene empirischen Operationen (Beobachtungen) und Kommunikationen (Handlungen) einstellen, die wir beobachten“. Von jedem Punkt könnte es woandershin weitergehen. Die moderne Gesellschaft ist, auch wenn es Autokraten nicht passt, polykontextural: „Es gibt keinen dominanten beziehungsweise legalen Beobachter. Die Gesellschaft ist ohne Mitte, sie ist nicht ausstattbar mit gesellschaftsweit gültigen Direktiven.“
Die Gesellschaft ist alles, was möglich ist. Sinnhaft bedeutet, diese Möglichkeiten auszuwählen, zu erkennen und zu verarbeiten.
Look out the left, the captain said, the lights down there that’s where we’ll land!
Im Zuge immer größerer Verwirrung in Spannungsfeld medialer Polygonie und Polyfonie müssen wir natürlich an dieser Stelle die Frage stellen, ob man per se vernünftig sein muss, um substanziell mitreden zu dürfen. Oder anders gefragt: Wer soll in der Arena öffentlicher Vernunft mitreden? Ludwig Wittgenstein schrieb im Vorwort zu seinem 1921 veröffentlichten Tractatus logico-philosophicus: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Die Folge: Wer gescheiter ist, braucht nicht zu schweigen. Wer dümmer ist, soll schweigen.
Wer aber kann das noch festlegen, ohne über den anderen willkürlich Macht auszuüben? Vielleicht hat Wittgenstein auch gemeint, was Amartya Sen vermutet: „Gescheiter zu sein kann uns auch befähigen, genauer über unsere Ziele, Zwecke und Werte nachzudenken.“ Nicht in dem Sinne, daraus selbst Kapital zu schlagen, sondern es sozial redlich zu tun und nicht auf den persönlichen Vorteil, sondern auf das Allgemeininteresse zu schauen. Ganz nach dem Motto: Nur wenn ich die engen Grenzen des Eigeninteresses und Eigennutzes überwinde, bin ich in jenem Sinne diskursfähig, dass ich auf den anderen Einfluss ausüben darf und mich in seine Perspektive versetzen kann. Ziel bleibt immer, als sozial redliche Autorität die zwanglose Zustimmung anderer zu gewinnen, wie Reinhard K. Sprenger im neuen Kursbuch 222 schreibt.
Diskursfähig ist, wer sich uneigennützig in die jeweilige Perspektivenvielfalt einbringen kann.
No one’s fussy, I’m a target.
Sozial redlich? Die Luft für Autokraten wird dünner. Denn soziale Redlichkeit braucht keine Autorität, die oben steht, herabblickt und sich mit Macht aufpumpt. Hier müssen wir Adam Smith hinzuziehen, der eine weitere Tugend ins Spiel bringt. Der unparteiische Zuschauer, den er 1759 in der Theorie der ethischen Gefühle erstmals erwähnt, eröffnet uns eine mögliche Lösung unseres Problems des öffentlichen Gebrauchs von Vernunft. Smith löst es auf, als dass er die Perspektivendifferenz als Voraussetzung betrachtet, diese Diskurse zu führen und eine große Vielfalt von Gesichtspunkten und Ansichten aus allen Ecken der sozialen Meinungsverteilung zuzulassen. Für unseren Zweck übersetzt: Alle Objektivität korrespondiert mit der Fähigkeit, sachkundigen kritischen Einwänden aus unterschiedlichen Richtungen standzuhalten.
Diskursfähig ist, wer sich uneigennützig in die jeweilige Perspektivenvielfalt der anderen einbringen kann, sie als unparteiischer Zuschauer berücksichtigt und in die begrifflichen Eigenlogiken einzubauen vermag.
Alasdair MacIntyre, der kürzlich verstorbene und hochverehrte Philosoph, hat uns in seinem Meisterwerk Der Verlust der Tugend auf die Mittel-Ziel-Beziehung zwischen gesellschaftlichen Akteuren hingewiesen. „Jemanden als Ziel zu behandeln bedeutet, ihm anzubieten, was ich als gute Gründe dafür ansehe, auf eine bestimmte Art und nicht anders zu handeln, es aber ihm zu überlassen, diese Gründe zu bewerten. Es bedeutet, sich zu weigern, einen anderen zu beeinflussen, außer durch Gründe, die dieser andere für gut erachtet. Es bedeutet, sich auf sachliche Kriterien zu berufen, deren Gültigkeit jeder rational Handelnde selbst beurteilen muss. Einen anderen dagegen als Mittel zu behandeln bedeutet, ihn zu einem Werkzeug seiner Zwecke machen zu wollen, indem ich alle Einflüsse und Überlegungen berücksichtige, die sich bei dieser oder jener Gelegenheit irgendwie auswirken könnten.“
Unparteiisch ist derjenige, der die Haltungen und Positionen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen versucht. Andere sollten immer Ziel, niemals Mittel sein.
Let me cover your shit in glitter, I can make it gold, gold
Wer also nur seine eigenen Vorlieben und Haltungen pflegt und die Welt nur als Arena zur Befriedigung eigener Wünsche betrachtet, wer die Wirklichkeit nur als Aneinanderreihung von Gelegenheiten zu ihrer Belustigung betrachtet, wer also, wie der Österreicher so treffend sagt, ein moralisch verwahrloster „Oasch“ ist, hat keinen Platz mehr in einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie etwa John Rawls vorschwebt, die auf einem Liberalismuskonzept fußt, in dem „jeder auf die anderen aufgrund allseitig annehmbarer Grundsätze der Gegenseitigkeit Rücksicht nimmt“. Rawls hält deshalb die Idee einer fairen sozialen Kooperation in der Gesellschaft geradezu für zwingend.
Es kooperieren alle Bürger als Freie und Gleiche. Der Vertrag, den sie dafür schließen, basiert einzig und allein auf dem Prinzip des gegenseitigen Vorteils.
Wir fassen zusammen: Möglichkeitsdenken ist uneigennützig, unparteiisch, polyfon. Es basiert auf sozialer Redlichkeit und der Annahme, sich gegenseitig zu bevorteilen und dem anderen zu überlassen, ob er zustimmen will, und ihn eben nicht überwältigen oder kontrollieren zu wollen. Denn nur auf diesem Fundament kann jeder von uns kurz im Mittelpunkt stehen und sich dann wieder in das „ständig wandelnde Meer von Gesichtern, Stimmen und Farben gleiten lassen“, wie es der „große Gatsby“ als Vorreiter im Geiste zu inszenieren verstand (die neue Übersetzung von Bernhard Robben sei abschließend noch kurz erwähnt).
Peter Felixberger, Montagsblock /327
09. Juni 2025