Uns Deutschen wird ja gerne eine gewisse Ängstlichkeit nachgesagt. Zumindest verbindet man mit uns nicht als allererstes den visionären Willen, das Unmögliche möglich zu machen unter Ausblendung aller abzusehenden Schwierigkeiten und Herausforderungen. Aber vielleicht war das ja alles ein Missverständnis, oder es hat sich zumindest geändert. Im Koalitionsvertrag steht schließlich allen Ernstes der Satz „Der erste Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen“.
Nun ist es ja alles andere als verkehrt, sich hehre Ziele zu setzen. Und zweifellos: Wenn wir die Kernfusion auf der Erde zum Laufen bekommen, sind die irdischen Energie- und Klimaprobleme gelöst.
Die Idee: Wenn man leichte Atomkerne wie Wasserstoff zum Verschmelzen bringt, wird eine große Menge Energie frei. Ein Gramm Brennstoff liefert so viel Energie wie zehn Tonnen Kohle. Das Brennmaterial ist in großen Mengen vorhanden. Es entstehen kaum radioaktive Abfallstoffe, ein GAU ist ausgeschlossen, die Fusion kann nicht außer Kontrolle geraten. Die Sonne betreibt diesen Prozess sehr erfolgreich seit Milliarden Jahren. Allerdings hat sie dabei Bedingungen zu bieten, die man hier auf der Erde nur unter großen Mühen herstellen kann. In ihrem Inneren herrscht eine Temperatur von 15 Millionen Grad und ein Druck, der dem 250 Milliarden-fachen unseres irdischen Luftdrucks entspricht.
Maschinen zu bauen, die ähnliche Bedingungen auf der Erde herstellen können, wird seit vielen Jahrzehnten versucht. Das bekannteste Experiment ist ITER. Im südfranzösischen Saint-Paul-lès-Durance wird seit 2010 ein Versuchsreaktor gebaut, finanziert von der EU, den USA, China, Südkorea, Japan, Indien und Russland. Die gewählte Technologie wird Tokamak genannt: In einem torusförmigen Gefäß wird ein Plasma aus Wasserstoffisotopen (Wasserstoffatome mit unterschiedlichem Gewicht) durch ein Magnetfeld auf 150 Millionen Grad erhitzt. In diesem heißen Plasma soll daraufhin Fusion möglich werden. ITER soll allerdings kein Kraftwerk sein. Es geht nicht darum, hier verwertbaren Strom zu erzeugen. Das Ziel ist, zu zeigen, dass sich auf der Grundlage von Kernfusion überhaupt Kraftwerke bauen lassen.
Eigentlich sollte das Projekt 2016 fertig sein, dann gab es immer wieder Korrekturen, Ende 2025 galt seit 2016 als Zeitmarke, letzten Sommer musste auch das aktualisiert werden: 2034 ist nun die nächste Zielansage. Wenn ITER dann als erfolgreich eingestuft wird, käme dann als Folgeprojekt „DEMO“: Ein Reaktor, der tatsächlich Strom ins Netz einspeisen kann. Nun liegt es nicht nur an den Herausforderungen der Kernfusion selbst, dass ITER zum Prototypen eines Problemprojekts geworden ist. Es gab blöde Unfälle bei der Herstellung wichtiger Bauteile, die Koordination von sieben Mitgliedstaaten war mit Sicherheit ebenfalls nicht hilfreich. Trotzdem ist die ITER-Technologie diejenige, die am nächsten dran zu sein scheint am Erreichen praktisch nutzbarer Kernfusion.
Man kann Atomkerne nämlich noch anders fusionieren: Mit anderen Magnetfeldarchitekturen, wie zum Beispiel dem sogenannten „Stellarator“, das in Greifswald im Experiment Wendelstein 7-X betrieben wird. Oder durch den Einsatz von Lasern. Letztere Strategie lieferte 2022 Schlagzeilen, als es an der National Ignition Facility (NIF) im kalifornischen Livermore gelang, aus einem Sekundenbruchteile dauernden Fusionsprozess in einem millimetergroßen Brennstoffkügelchen mehr Energie herauszubekommen als hineingesteckt worden war. Was damals groß gefeiert wurde, war allerdings mindestens so weit von jeder Anwendbarkeit entfernt wie die anderen Experimente: Die Herstellung der geeigneten Brennstoffkügelchen ist extrem aufwändig und teuer, und die Brennfrequenz müsste von einem Schuss pro Tag auf mehrere Schüsse pro Sekunde erhöht werden, damit man mit der Methode ein echtes Kraftwerk ans Netz bringen könnte. In der Energiebilanz war zudem nur die Laserenergie einberechnet, zur echten Energiegewinnung diente das Experiment noch nicht. Welche der verschiedenen Fusionstechnologien langfristig am erfolgsversprechendsten ist, weiß man bislang noch nicht. Es ist ein Weg mit unglaublich vielen Unbekannten.
Trotzdem versprechen Start-Ups derzeit weltweit, in zehn bis 15 Jahren kommerziell nutzbare Fusionsreaktoren zu bauen. Vor zweieinhalb Jahren war ich einmal bei der Präsentation eines Münchner Start-Ups dabei. Und es war haarsträubend, wie naiv dort über die zu meisternden Herausforderungen gesprochen wurde (im Sinne von: „Am NIF wurde gezeigt, dass Fusion möglich ist. Jetzt müssen wir es nur noch technologisch umsetzen“). Man übertreibt sicherlich nicht, wenn man sagt: Auf dem Gebiet der Kernfusion ist derzeit so deutlich wie an wenig anderen Stellen zu sehen, wie Hype funktioniert.
Dabei will ich wirklich nichts schlecht reden. Es ist unbedingt notwendig, dass man sich an dieser Stelle nicht technologisch von anderen abhängen lässt. Und es ist gut, dass die neue Bundesregierung das unterstützen will. Das Risiko dabei ist allerdings auch im Koalitionsvertrag zu sehen. Auch für die größten Fusions-Optimisten sollte deutlich sein, dass die Zeitskalen nicht passen: Der Klimawandel ist zu schnell für unsere Fusionsexperimente. Wenn wir uns aber nicht auf die Kernfusion als Lösung für die Klimakrise verlassen können, dann müssen wir uns andere Strategien ausdenken, wie wir schnell die CO2-Emissionen reduzieren können. Das darf nicht unter den Tisch fallen, wenn wir von deutscher Kernfusion träumen.
Sibylle Anderl, Montagsblock /319
14. April 2025