Montagsblock /217

Demokratien ähneln einem Prisma, durch das das weiße Licht der Gerechtigkeit in seine Spektralfarben zerlegt wird. Die Farben stehen symbolisch für unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte: Rot ist verteilungsgerecht, blau ist leistungsgerecht und grün ist chancengerecht. Nehmen wir, um es an einem Beispiel zu erläutern, die Debatte um den Mindestlohn, die gerade wieder in Fahrt zu kommen scheint. Rot bedeutet: Mindestlöhne sorgen für mehr Gerechtigkeit, sie stoppen mögliche Abwärtsspiralen von Löhnen an sich, kurbeln die Wirtschaft an und schaffen würdigere Arbeitsbedingungen bei gleichzeitiger Entlastung der Staatshaushalte. Blau bedeutet: Mindestlöhne sind eine protektionistische Maßnahme, die den Wettbewerb einschränkt und die Preise künstlich hochhält. Sie verteuert die Arbeit zu höheren Preisen und sorge für eine Vernichtung von Arbeitsplätzen. Grün bedeutet: Mindestlöhne erhöhen den Selbstbestimmungsgrad jedes einzelnen und erhöhen die Teilhabe an kulturellen und künstlerischen Angeboten. Sie garantiert die Solidarität in einem Gesellschaftsvertrag von Freien und Gleichen.

Stellt sich die Frage, wer hier recht hat? Keine Farbe so richtig und eindeutig, würde man als aufrechte Demokrat:in antworten. Denn eines ist klar: Aus Sicht des Marktes sind immer nur der Markt und seine Leistungsrationalität in Form von Profit und Gewinn gerecht. Aus Sicht der Politik kann es nur der Sozialstaat mit angeschlossenen Verteilungs- und Garantielogiken sein. Und aus Sicht der Bildung muss der Zugang zu kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe für alle abgesichert werden. Niemand darf ausgeschlossen werden. Wenn jedoch keiner exklusiv recht hat, ist die Demokratie nur dann stärker, je eigenständiger die Fraktalfarben leuchten dürfen. Und zwar so, als ob jede für sich zunächst recht hätte. Mit der Folge: Jeder kann sich dem jeweiligen Begründungslobbyismus anschließen, wie er will. Es bildet sich, wie Armin Nassehi nimmermüde betont, „je konkrete Gegenwarten mit je eigenen Anschlusslogiken und -möglichkeiten“. Das wiederum ermögliche punktuell effizientere Lösungen, weil die Probleme dezentraler und vielfältiger betrachtet werden.

Das Gegenmodell diversifizierter, gerechter Problemlösung wäre die überlegene, einzigartige Wahrheit, die von oben nach unten durchgedrückt und -gesetzt wird. Ein weißes Licht, das seine Zerlegung in bunte Spektralfarben nie erleben würde. Ein Unterdrückungsmodell gesellschaftlicher Eindeutigkeit und Vereinheitlichung, wie wir es derzeit in prominenten Diktaturen weltweit beobachten können. In einer starken Demokratie kann sich hingegen keiner mit aller Macht durchsetzen. Alle müssen aushalten, dass alle anderen anderer Meinung sein und die Mehrheit anders überzeugen könnten.

Daher ist es wichtig, dass die Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur permanent verunsichert werden und sich ausreichend gegenseitig kontrollieren. Dazu gehört vor allem, eigene Gewissheiten anzuzweifeln und die Selbstherrlichkeit inszenierter Machtpraxis in Frage zu stellen. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen: Entlarven, Widersprüche zur Schau stellen und Anprangern sind Bestandteile vitaler Demokratien, die sich ihrer Unzulänglichkeiten bewusstwerden und diese sichtbar machen wollen. Dabei aber in jedem Moment überzeugt sind, dass es einen gemeinsamen festen Sockel gibt, auf dem sich die fraktale Differenz von Rot, Grün und Blau ausbreiten kann.

Der Philosoph Harry G. Frankfurt hat dieses Fundament so beschrieben: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“. Sein israelischer Kollege Avishai Margalit nennt es eine „anständige Gesellschaft“, die jede Form von Ungleichheit beseitigt, die zu individueller Demütigung führt. „Das Übel ist die Armut sowie das Leiden und die Erniedrigung, die mit ihr einhergehen.“ Womit wir wieder beim Mindestlohn und den Fraktalfarben sind. Wer kümmert sich tatsächlich wie um die Armut und die dazugehörige Demütigungspraxis? Rot antwortet: 12 Euro die Stunde reichen. Wähler beruhigt, Wiederwahl verbessert. Blau sagt: Politik soll den Sozialpartnern die tarifautonome Entscheidung überlassen. Fairer Wettbewerb, Beschäftigung über alles. Und Grün weiß: Beispiel Behindertenwerkstätten. Kein Mindestlohn in Sicht. Über 320.000 Menschen mit Behinderung erwirtschaften jährlich einen Umsatz von acht Milliarden Euro. Ein lukratives Business, außer für die Beschäftigten in den Werkstätten. Social Washing statt Teilhabe.

Was tun? 12 Euro ständig in Frage stellen und die Rot-Widersprüche benennen. Blaue Tarifautonomie ins Kreuzverhör nehmen und die Armut-Demütigungsrealität anprangern. Und schließlich jedes grüne Social Washing in die Medienöffentlichkeit ziehen und rekonstruieren.

Soziologisch formuliert: An den Orten moderner Gerechtigkeitsgegenwarten werden sich die Akteure der Widersprüchlichkeit ihrer Gewissheiten bewusst. Am Ende kann ein gerechter Mindestlohn nur eine Vereinbarung sein, deren fraktalfarbenen Widersprüche offengelegt werden. Die Vorstellung einer einzig gerechten Gerechtigkeit des Mindestlohns ist nicht möglich. Starke Demokratien wissen das und tauchen jeden Tag aufs Neue in ihr jeweiliges Begründungs- und Selbstvergewisserungsbusiness ein. Das ist mühsam und braucht Menschen, die das Prisma der Demokratie als bunt, schillernd und ergebnisoffen anerkennen. Und Menschen, die angesichts der Zunahme von Armut in diesem Land (zuletzt war hierzulande fast jeder fünfte Mensch von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen) nicht aufhören, diese zu überwinden helfen. Egal, ob sie rot, blau oder grün argumentieren.

P.S.: Ein höherer Mindestlohn als in Deutschland wird in der EU gegenwärtig nur in Luxemburg gezahlt … In fünf EU-Mitgliedstaaten gibt es keinen Mindestlohn: Dänemark, Italien, Österreich, Finnland und Schweden.

Peter Felixberger, Montagsblock /217

17. April 2023