Montagsblock /326

Der Manichäismus ist eine synkretistische Religion, die sich im dritten Jahrhundert von Persien aus nach Osten und nach Westen ausgebreitet hat. Sie hat Elemente von Zarathustra, des Christentums und des Buddhismus aufgenommen.* Wie in allen Formen des Gnostizismus ist der Manichäismus u.a. von zwei Elementen besonders geprägt: von einem starken Dualismus im Sinne einer klaren Scheidung von Gut und Böse, von Licht und Finsternis, und von einem eschatologischen Charakter, der nach einer Auflösung hin zum Guten und zum Licht strebt. Bei aller religiös-historischen Differenziertheit, die hier vernachlässigt werden kann, nimmt der Begriff heute in seinem metaphorischen Gebrauch vor allem die Elemente des Dualistischen und des Eschatologischen auf, freilich ganz ohne religiöse Konnotationen.

Es ist keine Übertreibung, manche Formen heutiger Debatten und Konfliktlinien manichäisch nennen zu können, also eine extreme Beharrung von binären Formen, auf binären Klassifikationen, auf binären Urteilen. Etwas ist entweder richtig oder falsch, entweder gut oder böse, entweder moralisch oder unmoralisch, entweder schwarz oder weiß, entweder rechts oder links, entweder hell oder dunkel usw. Und das eschatologische Element lässt sich auch beobachten. Der beste Indikator für eine eschatologische Aufladung von Argumenten bzw. Sprechakten besteht darin, dass jedes einzelne Element, jede einzelne Äußerung, jede einzelne Entscheidung und Nuance für das Ganze steht. Es geht gewissermaßen immer ums Ganze – auch in Detailfragen. Denn wenn es im eschatologischen Sinne um die „letzten Dinge“ geht, um „Heil“ und „Verdammnis“, kann es keine Nebensächlichkeiten geben. Dann wird jedes Detail zu einem pars pro toto, und dann gibt es auch keine Barmherzigkeit gegenüber Unschärfen, Ungenauigkeiten oder gar dem unbedeutenden Zufall. Manichäische Denkungsarten können keinen Humor kennen, weil der Humor immer mit der Unschärfe spielt, mit dem Doppelbödigen. Humor führt Eindeutigkeit ad absurdum – und erzwingt einen dritten Blick, was sich dann im Lachen auflöst und entspannen kann.

Es soll hier nun weniger um konkrete Fälle gehen, sondern eher um die Erfahrung, dass immer mehr Debatten sich in falschen Dichotomien und allzu großer Eindeutigkeit verlieren. Eine „Aufarbeitung“ der Pandemie etwa wird schwierig, weil vielen Beobachtern nur die Möglichkeit zur Verfügung steht, die Maßnahmen entweder richtig oder falsch zu finden – nichts dazwischen ist dann denkbar, aber dies wäre nötig, um eine solche Aufarbeitung (die Vokabel verbietet sich dafür fast) gelingbar zu machen. Ähnliches lässt sich angesichts der Auseinandersetzung um die Beendigung des Krieges in der Ukraine finden. Die eher einfach Gestrickten meinen, man votiere für Krieg, wenn man Waffenlieferungen befürwortet, und man votiere für Frieden, wenn man deren Stopp verlangt. Eine andere Variante ist die Opposition zwischen „Verhandlungen“ und „militärischem Handeln“. Aus diesen logisch sehr simplen, zweiwertigen Formen wird dann auch eine entsprechende manichäische Zuordnung: man gehört zu denen, die das Problem sind, oder zu denen, die für die Lösung stehen. Die Sache selbst würde viel diffizilere Urteile erfordern, aber die Sache selbst kann so hinter der Struktur des Redens zurückbleiben.

Der „Rechts/Links“-Antagonismus wird ebenso verwendet – nicht, dass es keinen Unterschied zwischen rechten und linken Orientierungen gebe. Der Unterschied lässt sich durchaus benennen, und je genauer man ihn benennt, desto schwieriger wird es, die Dinge ohne Graustufen und Uneindeutigkeiten auf den Begriff zu bringen. Aber darum geht es beim Begriffsgebrauch gar nicht. Es ist eher ein inzwischen leerer Signifikant geworden, der damit um so mehr in der Lage ist, „Ordnung“ zu schaffen. Die Qualifizierung als „rechts“ und als „links“ wird geradezu für kontextfreien Gebrauch freigegeben, um eine Diskursordnung zu schaffen, die sich von allen Graustufen entlastet.

Die westliche Moderne, wenn man diese kultur- und gesellschaftshistorische Datierung gebrauchen will, zeichnete sich dadurch aus, Grauzonen zu etablieren: im Politischen die Macht zu teilen und das Durchregieren zu vermeiden, die Opposition einzubinden und vor allem Kompromisse zum Prinzip zu erheben; im Künstlerischen mit Formen zu spielen und Gewohntes aufzubrechen; im Wissenschaftlichen Engagement durch Distanzierung zu bändigen und etwas aus dieser Position des Dritten zu machen, indem man sich nicht einfach eingeführten Unterscheidungen fügt. In diesen drei Bereichen ist das inzwischen anders geworden: Politik wird autoritärer und unbedingter, Kompromisse immer schwieriger; in Kunst- und Kulturszenen macht sich zunehmend eine manichäische Form von Sagbarkeiten und Unsagbarkeiten breit; und in mancher akademischen Szene kehrt sich das Verhältnis von Engagement und Distanzierung um. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Interview mit dem Direktor der Neuen Nationalgalerie im aktuellen SPIEGEL Klaus Biesenbach über entsprechende Diskursverschiebungen in der Kulturszene.

Man kann noch so oft betonen, dass es nicht stimmt, dass Diskurse eingeschränkt werden und dass jeder alles sagen kann. Es ist oft ein gelassener Ton der Überlegenen, der so tut, als sei nichts gewesen. Und man hätte mit dieser Ansicht durchaus recht, denn es wird ja tatsächlich alles gesagt – und am meisten klagen diejenigen, dass sie nicht gehört werden, die den besten Zugang zur Massenverbreitung ihrer Sätze haben. Die These von den verhinderten Diskursen und der Cancel Culture ist also wirklich nicht plausibel.

Denn eigentlich ist es noch schlimmer: Die Struktur des Diskurses wird verengt: Es darf alles gesagt werden, aber alles Gesagte wird in den engen Rahmen manichäischer Schwarzweißmalerei eingelassen und zermürbt jede Gelassenheit, weil es bei jeder Detailfrage ums Ganze geht. Das ist das Virus, gegen das es kaum Immunreaktionen gibt, auch weil der Versuch, dritte Partei zu sein, von den ersten beiden Parteien entweder abgewehrt oder vereinnahmt wird.

Ein schönes Beispiel ist ein nur ironisch zu verstehende Versuch des Philosophen Daniel Pascal Zorn. Dieser hat in der ersten Ausgabe der Neuausgabe der legendären „Weltbühne“ einen kurzen Text platziert, dessen Argument mit dem hier vorgetragenen nicht identisch, aber durchaus verwandt ist.** Der neue Macher dieser Zeitschrift, der Verleger der „Berliner Zeitung“, kann selbst geradezu als Protagonist, will man es religiös ausdrücken: als Inkarnation einer manichäischen Weltauffassung angesehen werden, dessen Geschäftsmodell ausschließlich in der binären Krawalligkeit jener liegt, die von diesem Antagonismus leben. Und damit ist gerade seine Erbschaft dieser legendären Zeitschrift eine historische Provokation.

Die meisten Texte dieses ersten Heftes lassen das erahnen, sind aber zum größten Teil zu bedeutungslos, als dass man ihnen besondere Aufmerksamkeit widmen müsste. Zorns Text dagegen ist, im Kontext gelesen, geradezu der Versuch, eine dritte Perspektive einzubauen, eine, die die Bedingung der Möglichkeit des Heftes, in dem sie erscheint, zugleich negiert und bestätigt. Vielleicht bedarf es solcher indirekter Strategien, um überhaupt sichtbar machen zu können, was durch die Binarität der klaren Verhältnisse geradezu verdeckt wird. Die beiden Herausgeber dieses Blättchens jedenfalls dürften das nicht verstanden haben – und das scheint ein Teil der Lösung zu sein. Herausreden werden sie sich damit, dass sie ja Pluralismus ermöglichen wollen. Aber damit wären sie schon wieder in die Falle ihrer eigenen Markenbildung gelaufen.

Armin Nassehi, Montagsblock /326

02. Juni 2026

* Alexander Böhlig: Art. Manichäismus, in: TRE 22, Berlin/New York, S. 25-45.

** Daniel Pascal Zorn: Zu stoßen, was fällt, in: Weltbühne 1/2025, S. 14-17.