Neulich sprach mich ein Kollege an, der für eine Geschichte auf der Suche nach erfolgreichen Wissenschaftlern mit einem schlechten Abitur war. Ohne lange nachzudenken, bestätigte ich ihm sofort, dass es solche Fälle mit Sicherheit geben müsse. Und obwohl mir danach wider Erwarten kein konkretes Beispiel einfiel (wer spricht mit Forscherkollegen schon über Abinoten?), war mir immerhin klar, warum mir die Existenz solcher Wissenschaftler auf Anhieb so plausibel erschien: Überragende Schüler sind nicht unbedingt diejenigen, die sich besonders geschmeidig ins Schulsystem einfügen.
Schließlich kennt wohl jeder die Fälle begabter Schüler, die grundsätzlich mit übergeordneten Wissens-Autoritäten aneinandergeraten, weil sie nichts glauben, was sie nicht selbst abgeleitet oder erdacht haben. Neulich habe ich zum Beispiel mit einem KI-Forscher darüber gesprochen, wie Mentoren unsere Lebenswege beeinflusst haben. Er sagte, er habe nie Mentoren gehabt, weil er immer festgestellt habe, wie begrenzt und begrenzend deren Wissen war. Verstanden gefühlt hat er sich von Lehrenden nie. Sein Fazit bereits in jungen Jahren: Die beste Strategie ist, sich alles selbst zu erarbeiten. Mich überraschte dieses Geständnis nicht, denn das hatte ich schon aus seiner Doktorarbeit herausgelesen: Die fasst zwar den aktuellen Forschungsstand pflichtschuldig zusammen, kommt dann allerdings zu dem Schluss, dass alles bisher von anderen Erarbeitete kein bisschen taugt, seine Forschungsfrage zu beantworten.
Derartiges Selbstbewusstsein hatte ich nicht, weder in der Schule, noch während der Promotion. Mit Lehrern aneinandergeraten bin ich trotzdem regelmäßig – auch wenn ich sie nur allzu gerne als Mentoren akzeptiert hätte. Korreliert waren solche Konflikte mit Situationen, in denen ich mich insbesondere in meinen Lieblingsfächern für Dinge interessierte, die den Lehrplan sprengten. Als ich einmal meinen Mathelehrer in der 5. Klasse zu verschiedenen Arten von Unendlichkeiten löcherte, fiel ihm nichts anderes ein, als mich als „völlig verbildet“ zu bezeichnen und den Rest der Stunde an die Tafel zum Strafrechnen zu stellen. In der Grundschule war das Prädikat in solchen Fällen noch „altklug“ gewesen – wobei ich glücklicherweise nicht altklug genug war, zu wissen, was altklug eigentlich bedeutet. Dass es nichts uneingeschränkt Positives war, erschloss sich allerdings aus der Reaktion meiner Eltern.
Zu einer vollständigen Ablehnung von Autoritäten hat das bei mir in der Ausbildung nicht geführt. Besonders wurde mir das bei einem Forschungsaufenthalt in Kalifornien vor Augen geführt, wo die Diskussionskultur im Vergleich zu derjenigen, die ich aus meinem deutschen akademischen Umfeld kannte, sehr viel aggressiver war. Als Vortragende bekam ich dort keinerlei Autoritätsvorschuss zugebilligt. Schon nach den ersten Sätzen meines Vortrags im Lunch Colloquium gab es die ersten kritischen Zwischenfragen. Ich war bis dahin gewohnt gewesen, dass Vorträge erstmal bis zum Schluss gehört werden, um dem Vortragenden die Chance zu geben, sein Argument wasserdicht vorzutragen, bevor nach Schwachstellen gesucht wird. Ich selbst gehörte damals sowieso zu der Gruppe Zuhörer, die erst lange überlegten, ob ihre Frage sinnvoll genug war, um alle Anwesenden damit zu belästigen.
Ich habe die amerikanischen Kollegen um ihre alles in Zweifel ziehende Haltung damals sehr beneidet. Denn indem man, ohne blind Autoritäten zu vertrauen, als Wissenschaftler alles erstmal selbstbewusst infrage stellt, setzt man offensichtlich in vorbildlicher Art die kritische Haltung der Forschung um.
Gleichzeitig ist auch klar, dass diese Haltung an ihre Grenzen stößt – dafür muss man nicht erst die Wissenschaftsphilosophie bemühen. Denn es braucht einen Grund geteilter, nicht weiter prüfbarer Selbstverständlichkeiten, von dem aus sinnvoll kritisch gefragt werden kann. In einer arbeitsteiligen und hochgradig spezialisierten Welt muss man zumindest vorläufig vieles akzeptieren, was Wissensautoritäten einem vorsetzen. Schon allein, weil man erst verstehen muss, um gerechtfertigt kritisieren zu können. Wirklich alles zu hinterfragen, kann damit genauso schädlich sein, wie einfach alles zu glauben.
Wenn man mit selbsternannt kritischen Menschen redet, die spätestens seit der Pandemie nichts mehr glauben, wofür verhasste Autoritäten stehen, sieht man zudem, dass man die Abhängigkeit von Autoritäten nur schwer abschaffen kann. Oft werden die Autoritäten lediglich ausgewechselt, statt umfassend kritisch selbst zu denken. Neben dem kritischen Hinterfragen wird so zu einer wichtigen Kompetenz, ein gesundes Gespür dafür zu entwickeln, wer als Autorität legitimiert ist und wer nicht, was Warnzeichen sind, die zu Widerspruch aufrufen, und was im Gegenteil die Akzeptanz von Autorität rechtfertigen kann. Die Bereitschaft, sich selbst infrage zu stellen und die eigene Meinung zu ändern, ist für mich heute beispielsweise ein Verhalten, das Autorität verleiht – obwohl es auf den ersten Blick die eigene Autorität zu bedrohen scheint.
„Wen betrachte ich, wenn überhaupt, als echte Autorität?“ – das ist im nächsten Band des Kursbuchs die Frage, die wir verschiedenen Menschen im Rahmen unserer kurzen Intermezzi gestellt haben. Und aus diesen Fragen kann man nicht nur viel über die Antwortenden lernen, sie eröffnen auch lohnende Perspektiven auf akute Probleme unserer mit Autoritäten ringenden Gegenwart. Das Kursbuch 222 ist ganz frisch auf dem Weg in die Druckerei – und am 2. Juni wird man die Antworten lesen können.
Sibylle Anderl, Montagsblock /322
05. Mai 2025