Wissenschaftler brauchen mehr Zeit zum Nachdenken, hieß es am 25. Juli im renommierten Fachjournal „Nature“. Die vielen Kommunikationskanäle, die es jederzeit zu bedienen gilt, der zunehmende Druck immer noch produktiver zu werden, all das könne dazu führen, dass die Forschung weniger disruptiv werde und Qualität einbüße. Vermutlich holt diese Analyse jeden ab – nicht nur jeden Wissenschaftler, sondern auch Zugehörige der meisten anderen Berufsgruppen. Alles scheint sich überall zu beschleunigen, und Beschleunigung in einem Feld zieht Beschleunigung im anderen nach sich. Wissenschaftler veröffentlichen mehr, Wissenschaftsjournalisten müssen das alles im Auge behalten und dazu immer mehr schreiben, Medienkonsumenten müssen immer mehr lesen, hören, sehen. Zeit zum Nachdenken bleibt da nicht viel.
Aber war das früher wirklich so anders? Ich erinnere mich, wie ich mich als gestresstes Schulkind an Momos graue Herren erinnert fühlte: Alle Menschen müssen sich beeilen, um Zeit zu sparen, aber diese gesparte Zeit wird von eben jenen grauen Herren in dicken Zigarren weggeraucht und die mühsam unter unglaublichem Stress zusammengesparten Zeitguthaben kommen den Sparern nie zugute. Das war in den 90ern. Momo erschien 1973.
Ablenkung gab es schon immer reichlich. Und tatsächlich haben uns Technologien auch vieles leichter gemacht. Wir sparen enorm viel Zeit bei jeder Art von Recherchetätigkeit, wir verpassen uns nicht mehr so oft bei Verabredungen und wenn, können wir die Wartezeit mit sinnvoller Lektüre füllen, das Schreiben von Texten geht viel schneller, einkaufen ist eine Frage weniger Klicks, wir müssen nicht mehr in die Videothek laufen, wenn wir Lust auf einen bestimmten Film haben… Aber es stimmt wahrscheinlich: Obwohl es schon immer Kunstfertigkeit erforderte, sich Zeit zum Nachdenken zu reservieren, ist das heute medial und kommunikativ besonders schwierig geworden. Denn selbst wenn wir im Prinzip Zeit haben, werden wir schneller abgelenkt, als wir nachdenken können.
In der vergangenen Woche habe ich mich mit einem Kollegen über Künstliche Intelligenz unterhalten. Er sagte, er finde den Punkt interessant, dass die Sprachmodelle uns nun gerade die Aufgaben abnehmen sollen, die uns noch am meisten Spaß machen: Texte schreiben, Brainstormen, Kunstwerke erschaffen, kreativ sein.
Was sie absehbar nicht können, ist aber Nachdenken – in einem Sinne, der theoretische Informationen, Erfahrungen, Empfindungen, Stimmungen miteinbezieht. Menschliches Nachdenken, das Gedanken hervorbringt, die sich aus dem permanenten Informationsstrom abheben. Könnte man die KI nicht nutzen, um sich genau solche Räume des Nachdenkens zurückzuerobern? Wenn wir hoffentlich bald digitale Assistenten besitzen, denen wir nur kurz zurufen, wie sie mit unseren E-Mails verfahren sollen, ohne dass wir alle Antworten ausformulieren müssen, die Anträge und Berichte vorformulieren können, so dass uns nur noch die Schlussabnahme bleibt, dann könnte das doch im Prinzip funktionieren. Permanente Kommunikation ist schließlich eine der mächtigsten Quellen von Ablenkung. Die eigentliche Herausforderung bliebe uns dann aber trotzdem noch: Die so gewonnene Zeit nicht mit anderem Quatsch zu füllen, sondern wirklich zum Nachdenken zu nutzen.
Und das auch noch öffentlich zu rechtfertigen. In „Nature“ wird die britische Wissenschaftlerin Felicity Mellor mit der Aussage zitiert, dass so eine Rechtfertigung im wissenschaftlichen Betrieb nie leicht sein werde. „Können Sie sich die Reaktion vorstellen, wenn ein Wissenschaftler einen Zeiterfassungsbogen ausfüllt, in dem steht ‚acht Stunden mit Nachdenken verbracht‘?“. Wahrscheinlich wäre es also nicht allein damit getan, mehr Zeit zum Nachdenken zu haben. Das Nachdenken an sich müsste bei uns kulturell und gesellschaftlich wieder aufgewertet werden. Vielleicht ist das also die eigentliche Aussage: Wissenschaftler (und alle anderen) müssen das Nachdenken wieder als wichtige Tätigkeit ernstnehmen. Die Zeit fände man dann schon.
Sibylle Anderl, Montagsblock /285
05. August 2024