Montagsblock /155

Es gibt in der Pandemie eine Diskursfläche, die sich immer mehr zur Kampfzone entwickelt. Sie ist mit der grundsätzlichen Frage verbunden, inwieweit sich die parlamentarische Demokratie gerade in einen autoritären Exekutivstaat verwandle? So jedenfalls titeln es Querdenker, Demokratiefeinde und Rechtsextreme in ihren einschlägigen Medien und Foren. Sie fühlen sich unterdrückt vom angeblichen Durchsetzungsfuror des Staates. Kurz gesagt: Der Staat heble im Namen der Demokratie das Grundgesetz aus. Besonders beim Thema Impfpflicht. Er legitimiere deren Einführung mit einem Ausnahmezustand, der seine autoritäre Durchsetzung als demokratischen Gesamtwillen interpretiere. Dagegen müsse man sich wehren und die Dominanz der Individualrechte wieder herstellen. In wöchentlichen Spaziergängen symbolisiere sich deshalb eine legitime Form von Widerstand gegen diese neue Staatlichkeit mit nachgeschaltetem demokratischen Unterdrückungsapparat.

Leider ist diese Argumentation gar nicht so neu, wenn man in politischen Geschichtsbüchern zurückblättert. Vor über 90 Jahren widmete sich bereits ein sauerländischer Kleinbürger, NS-Apologet und späterer Privatgelehrter dieser Thematik: Carl Schmitt. Sein zentraler Satz lautete: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Ein wuchtiger Satz, zweifellos. Er impliziert nämlich, dass der Souverän auch die Regel bestimmt. Schmitt nennt sie die Normalität. Wer über sie herrscht, ist in der Lage, den Ausnahmefall festzulegen. „Die Leistung eines normalen Staates“, schlussfolgert er deshalb, „besteht vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen.“ Es herrscht wieder Ruhe im Land.

Jeder echte Staat, so Schmitt, müsse folglich ein totaler Staat sein, der beides kann: zwingend Ruhe, Sicherheit und Ordnung herstellen sowie den Ausnahme- im Bedarfsfall festlegen. Im Ausnahmezustand jedoch können die Abweichler als innere Feinde bekämpft werden. Diese wiederum dürfen sich wehren und im Ernstfall sogar das Schwert des Bürgerkriegs zücken, um die Macht über den Ausnahmezustand wieder zu erlangen. Da bekommt der Rechtsextremist feuchte Augen. Denn der totale Staat, so Schmitt weiter, „denkt nicht daran, seine Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden.“ Im Klartext: Nur in der Dominanz des ius belli könne der Staat zum Führer und Verteidiger von Normalität und Ausnahmezustand werden. So ist das, wenn man sich auf den katholischen Kleinbürger Carl Schmitt einlässt.

Kein Wunder, dass man viele Jahre nichts von ihm gehört hat. Weltkrieg, Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung und Widersprüche zogen durchs Land. Unser Privatgelehrter wurde in den Nürnberger Prozessen als Hochschullehrer amtsenthoben und hat schließlich 1985 das Zeitliche gesegnet. Doch Achtung! Mit seinem Theorieschamott werden wieder ofenfeste Widerstandsformen gebaut. In der Pandemie wird der Souverän als desavouierendes Freund-Feind-Komitee in den aufkeimenden Widerstand wütender Feudalbürger eingefädelt.

Nur zur allgemeinen Selbstvergewisserung sei hier betont: Laut bundesrepublikanischer Übereinkunft obliegt die politische Gesetzgebung einer parlamentarischen Demokratie, einem Rechtsstaat mit staatlicher Gewaltenteilung. Mittels eines differenzierten Wahlsystems sowie einer legislativen und judikativen Autonomie wird eine ordnungsgemäße Übertragung des Einzelwillens auf den demokratisch legitimierten Souverän garantiert. Bottom-up, so könnte man die Antithese zum totalen Staat bezeichnen, inszeniert sich als vitaler Meinungsbildungs- und Kontrollprozess in einer grundgesetzlich garantierten parlamentarischen und judikativen Vielfalt mit angeschlossener gesellschaftlicher Stratifizierung. Vom Kreis- bis zum Bundestag, vom Land- bis zum Bundesverfassungsgericht. Top-down, eigenmächtig und total verfügt hier schon lange keiner mehr etwas, und schon gar nicht einen Ausnahmezustand, welcher offenbar nur deshalb so heftig wahrgenommen wird, weil Hunderttausende von Impfunwilligen und -gegnern im schlichten Carl Schmitt-Demokratiefeind-Kostüm über die Marktplätze der Republik spazieren. Inklusive begleitender medialer Marschmusik.

Meister Schmitt würde indes applaudieren. Der liberale Rechtsstaat, so hat er nimmermüde betont, sei zur Integration heterogener Massen nicht fähig. Ein Parlament sei diesbezüglich nicht geeignet, sondern nur das Prinzip der je akklamierenden Rede und Gegenrede könne den Volkswillen kundtun. „Erst das wirklich versammelte Volk ist Volk, und nur das wirklich versammelte Volk kann das tun, was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört: Es kann akklamieren, d.h. durch einfachen Zuruf seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken“, schreibt Schmitt Ende der 1920er-Jahre und fordert fortan „einen autoritären Exekutivstaat mit plebiszitären Momenten“, wie es Herfried Münkler einmal resümiert hat.

Und so schließt sich der Kreis in diesem kleinen Exkurs leider nicht ganz. Verwirrte Impfgegner verwechseln weiterhin schielend Demokratie und Rechtsextremismus. Wirre Demokratiefeinde verwechseln starrend Impfpflicht und Staatlichkeit. Und irrlichternde Rechtsextreme verwechseln stierblickend Ausnahme und Normalität.

Rettung in Sicht? Es soll noch freie Termine beim Augenarzt geben!