Warum Bildung mehr ausgrenzt als inkludiert
Bildungsromane haben derzeit keine besondere Konjunktur. Die populäre Gattung, die über viele Jahrzehnte hinweg immer neue Geschichten von jenen produzierte, die mit Bildungsgütern in Berührung kommen und fortan anders auf die Welt blicken, scheint zu schwächeln.
Vor diesem Hintergrund ist die starke Resonanz auf einige Bücher aus der jüngsten Vergangenheit, die Bildungseinrichtungen ins Zentrum rücken und diese als Erfahrungsräume eigener Art schildern, umso erstaunlicher. Der spektakulärste Fall darunter ist fraglos Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“. Dessen Reflexion über das Aufwachsen in einem proletarischen Milieu und den eigenen Bildungsgang – ausgelöst durch den Tod seines Vaters – erschien 2016 in deutscher Übersetzung und liegt mittlerweile in der 16. Auflage vor. Das Buch wurde nicht nur in den Feuilletons intensiv diskutiert und in einer Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen behandelt, sondern unlängst auch an der Berliner Schaubühne als Theaterstück inszeniert. Zwei Jahre zuvor war bereits der Roman „Das Ende von Eddy“ erschienen. Édouard Louis, ein ehemaliger Student von Eribon und mit diesem befreundet, schildert hier nicht weniger eindringlich seine Kindheit und Jugend in der Picardie. Auch Édouard Louis ist schwul, auch er stammt aus einem depravierten Milieu und findet, wie Eribon, schließlich den Weg aus der Provinz ins ferne Paris. Für das wachsende Interesse an diesen neuen Spielarten des Bildungsromans spricht weiterhin, dass im vergangenen Jahr, kaum nachdem in den USA J. D. Vances Buch Hillbilly Elegy erschienen war, bereits die deutschsprachige Übersetzung vorlag. Die persönlich gehaltene Erzählung vom Aufwachsen im Rust Belt, dabei überwiegend von der Großmutter betreut, weil die drogenabhängige Mutter überfordert ist, fand auch hierzulande rasch eine große Zahl von Leserinnen und Lesern.
Das Unbehagen am Bildungswesen
In einem sehr lesenswerten Beitrag für den Merkur ist unlängst der Germanist Carlos Spoerhase der Frage nachgegangen, wie sich die besondere Aufmerksamkeit erklären lässt, welche diese Bücher hierzulande erfahren. Sie unterscheiden sich zwar in gattungstheoretischer Hinsicht ganz beträchtlich – es handelt sich um eine soziologisch-reflexive Studie, um einen packenden, vielschichtigen Roman sowie um einen autobiografischen Essay –, aber sie gleichen sich doch darin, dass sie auf eine große Nachfrage stoßen; insbesondere die beiden französischen Autoren sehen sich seither mit einer Vielzahl von Anfragen deutscher Medienvertreter konfrontiert. (…)
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Markus Rieger-Ladich, geb. 1967, ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zuletzt erschien „Pierre Bourdieu. Pädagogische Lektüren“ (zusammen mit Christian Grabau).